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Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke in der Malerei und Bildhauerkunst setzet Herr Winckelmann in eine edele Einfalt und stille Gr??e, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. "So wie die Tiefe des Meeres", sagt er 1), "allezeit ruhig bleibt, die Oberfl?che mag auch noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine gro?e und gesetzte Seele.
{1. Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 21. 22.}
Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des K?rpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, ?u?ert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die ?ffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ?ngstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmerz des K?rpers und die Gr??e der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher St?rke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser gro?e Mann das Elend ertragen zu k?nnen.
Der Ausdruck einer so gro?en Seele geht weit über die Bildung der sch?nen Natur. Der Künstler mu?te die St?rke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einpr?gte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person, und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein, usw."
Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, da? der Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen Wut nicht zeige, welche man bei der Heftigkeit desselben vermuten sollte, ist vollkommen richtig. Auch das ist unstreitig, da? eben hierin, wo ein Halbkenner den Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische des Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte; da?, sage ich, eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.
Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit gibt, in der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meinung zu sein.
Ich bekenne, da? der mi?billigende Seitenblick, welchen er auf den Virgil wirft, mich zuerst stutzig gemacht hat; und n?chstdem die Vergleichung mit dem Philoktet. Von hier will ich ausgehen, und meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie sich bei mir entwickelt.
"Laokoon leidet, wie des Sophokles Philoktet." Wie leidet dieser? Es ist sonderbar, da? sein Leiden so verschiedene Eindrücke bei uns zurückgelassen.-Die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle heilige Handlungen st?rte, erschollen nicht minder schrecklich durch das ?de Eiland, und sie waren es, die ihn dahin verbannten. Welche T?ne des Unmuts, des Jammers, der Verzweiflung, von welchen auch der Dichter in der Nachahmung das Theater durchhallen lie?.-Man hat den dritten Aufzug dieses Stücks ungleich kürzer, als die übrigen gefunden. Hieraus sieht man, sagen die Kunstrichter 2), da? es den Alten um die gleiche L?nge der Aufzüge wenig zu tun gewesen. Das glaube ich auch; aber ich wollte mich desfalls lieber auf ein ander Exempel gründen, als auf dieses. Die jammervollen Ausrufungen, das Winseln, die abgebrochenen a, a, jeu, attatai, w moi, moi! die ganzen Zeilen voller papai, papai, aus welchen dieser Aufzug bestehet, und die mit ganz andern Dehnungen und Absetzungen deklamieret werden mu?ten, als bei einer zusammenhangenden Rede n?tig sind, haben in der Vorstellung diesen Aufzug ohne Zweifel ziemlich ebensolange dauren lassen, als die andern. Er scheinet dem Leser weit kürzer auf dem Papiere, als er den Zuh?rern wird vorgekommen sein.
{2. Brumoy, Théat. des Grecs T. II. p. 89.}
Schreien ist der natürliche Ausdruck des k?rperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die geritzte Venus schreiet laut 3); nicht um sie durch dieses Geschrei als die weichliche G?ttin der Wollust zu schildern, vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben. Denn selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gr??lich, als schrien zehntausend wütende Krieger zugleich, da? beide Heere sich entsetzen 4).
{3. Iliad. E. v. 343. h de mega iacousa-}
{4. Iliad. E. v. 859.}
Soweit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die ?u?erung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Tr?nen, oder durch Scheltworte ank?mmt. Nach ihren Taten sind es Gesch?pfe h?herer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen.
Ich wei? es, wir feinern Europ?er einer klügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. H?flichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tr?nen. Die t?tige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser gr??er, als in jener. Aber unsere Ureltern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbei?en, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts 5). Palnatoko gab seinen Jomsburgern das Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu nennen.
{5. Th. Bartholinus de causis contemptae a Danis adhuc gentilibus mortis, cap. I.}
Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er ?u?erte seine Schmerzen und seinen Kummer; er sch?mte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mu?te ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verh?rtung entsprang, das wirkten bei ihm Grunds?tze. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, solange keine ?u?ere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine Klarheit noch seine K?lte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schw?rzte.-Wenn Homer die Trojaner mit wildem Geschrei, die Griechen hingegen in entschlo?ner Stille zur Schlacht führet, so merken die Ausleger sehr wohl an, da? der Dichter hierdurch jene als Barbaren, diese als gesittete V?lker schildern wollen. Mich wundert, da? sie an einer andern Stelle eine ?hnliche charakteristische Entgegensetzung nicht bemerket haben 6). Die feindlichen Heere haben einen Waffenstillestand getroffen; sie sind mit Verbrennung ihrer Toten besch?ftigst, welches auf beiden Teilen nicht ohne hei?e Tr?nen abgehet; dakrua Jerma ceonteV. Aber Priamus verbietet seinen Trojanern zu weinen; oud' eia klaiein PriamoV megaV. Er verbietet ihnen zu weinen, sagt die Dacier, weil er besorgt, sie m?chten sich zu sehr erweichen, und morgen mit weniger Mut an den Streit gehen. Wohl; doch frage ich: warum mu? nur Priamus dieses besorgen? Warum erteilet nicht auch Agamemnon seinen Griechen das n?mliche Verbot? Der Sinn des Dichters geht tiefer. Er will uns lehren, da? nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein k?nne; indem der ungesittete Trojaner, um es zu sein, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse. Nemessvmai ge men ouden klaiein, l??t er an einem andern Orte 7) den verst?ndigen Sohn des weisen Nestors sagen.
{6. Iliad. H. v. 421.}
{7. Odyss. D. 195.}
Es ist merkwürdig, da? unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem Altertume auf uns gekommen sind, sich zwei Stücke finden, in welchen der k?rperliche Schmerz nicht der kleinste Teil des Unglücks ist, das den leidenden Helden trifft. Au?er dem Philoktet, der sterbende Herkules. Und auch diesen l??t Sophokles klagen, winseln, weinen und schreien. Dank sei unsern artigen Nachbarn, diesen Meistern des Anst?ndigen, da? nunmehr ein winselnder Philoktet, ein schreiender Herkules, die l?cherlichsten unertr?glichsten Personen auf der Bühne sein würden. Zwar hat sich einer ihrer neuesten Dichter 8) an den Philoktet gewagt. Aber durfte er es wagen, ihnen den wahren Philoktet zu zeigen?
{8. Chateaubrun.}
Selbst ein Laokoon findet sich unter den verlornen Stücken des Sophokles. Wenn uns das Schicksal doch auch diesen Laokoon geg?nnet h?tte! Aus den leichten Erw?hnungen, die seiner einige alte Grammatiker tun, l??t sich nicht schlie?en, wie der Dichter diesen Stoff behandelt habe. So viel bin ich versichert, da? er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben. Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichm??ig, welches der interessierende Gegenstand ?u?ert. Sieht man ihn sein Elend mit gro?er Seele ertragen, so wird diese gro?e Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen unt?tiges Staunen jede andere w?rmere Leidenschaft, sowie jede andere deutliche Vorstellung ausschlie?et.
Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es wahr ist, da? das Schreien bei Empfindung k?rperlichen Schmerzes, besonders nach der alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer gro?en Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen; sondern es mu? einen andern Grund haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket.