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Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Laokoon in dem Ausdrucke des k?rperlichen Schmerzes Ma? halten müssen, und finde, da? sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also wohl irgendeine derselben auf die Poesie anwenden lassen.
Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, k?rperliche Sch?nheit zu schildern: so ist so viel unstreitig, da?, da das ganze unerme?liche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen stehet, diese sichtbare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu Sch?nheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln sein kann, durch die er uns für seine Personen zu interessieren wei?. Oft vernachl?ssiget er dieses Mittel g?nzlich; versichert, da? wenn sein Held einmal unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften entweder so besch?ftigen, da? wir an die k?rperliche Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so bestechen, da? wir ihm von selbst wo nicht eine sch?ne, doch eine gleichgültige erteilen. Am wenigsten wird er bei jedem einzeln Zuge, der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmt ist, seine Rücksicht dennoch auf diesen Sinn nehmen dürfen. Wenn Virgils Laokoon schreiet, wem f?llt es dabei ein, da? ein gro?es Maul zum Schreien n?tig ist, und da? dieses gro?e Maul h??lich l??t? Genug, da? clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabner Zug für das Geh?r ist, mag er doch für das Gesicht sein, was er will. Wer hier ein sch?nes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.
Nichts n?tiget hiern?chst den Dichter sein Gem?lde in einen einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle m?gliche Ab?nderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Ab?nderungen, die dem Künstler ein ganzes besonderes Stück kosten würde, kostet ihm einen einzigen Zug; und würde dieser Zug, für sich betrachtet, die Einbildung des Zuh?rers beleidigen, so war er entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet, oder wird durch das Folgende so gemildert und vergütet, da? er seinen einzeln Eindruck verlieret, und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut. W?re es also auch wirklich einem Manne unanst?ndig, in der Heftigkeit des Schmerzes zu schreien; was kann diese kleine überhingehende Unanst?ndigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? Virgils Laokoon schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den w?rmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unertr?gliches Leiden. Dieses allein h?ren wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.
Wer tadelt ihn also noch? Wer mu? nicht vielmehr bekennen: wenn der
Künstler wohl tat, da? er den Laokoon nicht schreien lie?, so tat der
Dichter ebenso wohl, da? er ihn schreien lie??
Aber Virgil ist hier blo? ein erz?hlender Dichter. Wird in seiner Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mitbegriffen sein? Einen andern Eindruck macht die Erz?hlung von jemands Geschrei; einen andern dieses Geschrei selbst. Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deswegen sich an die Gesetze der materiellen Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir nicht blo? einen schreienden Philoktet zu sehen und zu h?ren; wir h?ren und sehen wirklich schreien. Je n?her der Schauspieler der Natur k?mmt, desto empfindlicher müssen unsere Augen und Ohren beleidiget werden; denn es ist unwidersprechlich, da? sie es in der Natur werden, wenn wir so laute und heftige ?u?erungen des Schmerzes vernehmen. Zudem ist der k?rperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht f?hig, welches andere übel erwecken. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als da? die blo?e Erblickung desselben etwas von einem gleichm??igen Gefühl in uns hervorzubringen vermochte. Sophokles k?nnte daher leicht nicht einen blo? willkürlichen, sondern in dem Wesen unserer Empfindungen selbst gegründeten Anstand übertreten haben, wenn er den Philoktet und Herkules so winseln und weinen, so schreien und brüllen l??t. Die Umstehenden k?nnen unm?glich so viel Anteil an ihrem Leiden nehmen, als diese ungem??igten Ausbrüche zu erfordern scheinen. Sie werden uns Zuschauern vergleichungsweise kalt vorkommen, und dennoch k?nnen wir ihr Mitleiden nicht wohl anders, als wie das Ma? des unsrigen betrachten. Hierzu füge man, da? der Schauspieler die Vorstellung des k?rperlichen Schmerzes schwerlich oder gar nicht bis zur Illusion treiben kann: und wer wei?, ob die neuern dramatischen Dichter nicht eher zu loben, als zu tadeln sind, da? sie diese Klippe entweder ganz und gar vermieden, oder doch nur mit einem leichten Kahne umfahren haben.
Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen w?re, das Widerspiel durch die Tat zu erweisen. Alle diese Betrachtungen sind nicht ungegründet, und doch bleibet Philoktet eines von den Meisterstücken der Bühne. Denn ein Teil derselben trifft den Sophokles nicht eigentlich, und nur indem er sich über den andern Teil hinwegsetzet, hat er Sch?nheiten erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter, ohne dieses Beispiel, nie tr?umen würde. Folgende Anmerkungen werden es n?her zeigen.
1. Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des k?rperlichen Schmerzes zu verst?rken und zu erweitern gewu?t! Er w?hlte eine Wunde-(denn auch die Umst?nde der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von seiner Wahl abgehangen h?tten, insofern er n?mlich die ganze Geschichte, eben dieser ihm vorteilhaften Umst?nde wegen, w?hlte)-er w?hlte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche Krankheit; weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen l??t, als von dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist. Die innere sympathetische Glut, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine Mutter in dem fatalen Brande ihrer schwesterlichen Wut aufopferte, würde daher weniger theatralisch sein, als eine Wunde. Und diese Wunde war ein g?ttliches Strafgericht. Ein mehr als natürliches Gift tobte unaufh?rlich darin, und nur ein st?rkerer Anfall von Schmerzen hatte seine gesetzte Zeit, nach welchem jedesmal der Unglückliche in einen bet?ubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine ersch?pfte Natur erholen mu?te, den n?mlichen Weg des Leidens wieder antreten zu k?nnen. Chateaubrun l??t ihn blo? von dem vergifteten Pfeile eines Trojaners verwundet sein. Was kann man sich von einem so gew?hnlichen Zufalle Au?erordentliches versprechen? Ihm war in den alten Kriegen ein jeder ausgesetzt; wie kam es, da? er nur bei dem Philoktet so schreckliche Folgen hatte? Ein natürliches Gift, das neun ganzer Jahre wirket, ohne zu t?ten, ist noch dazu weit unwahrscheinlicher, als alle das fabelhafte Wunderbare, womit es der Grieche ausgerüstet hat.
2. So gro? und schrecklich er aber auch die k?rperlichen Schmerzen seines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, da? sie allein nicht hinreichend w?ren, einen merklichen Grad des Mitleids zu erregen. Er verband sie daher mit andern übeln, die gleichfalls für sich betrachtet nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese Verbindung einen ebenso melancholischen Anstrich erhielten, als sie den k?rperlichen Schmerzen hinwiederum mitteilten. Diese übel waren, v?llige Beraubung der menschlichen Gesellschaft, Hunger und alle Unbequemlichkeiten des Lebens, welchem man unter einem rauhen Himmel in jener Beraubung ausgesetzet ist 1). Man denke sich einen Menschen in diesen Umst?nden, man gebe ihm aber Gesundheit, und Kr?fte, und Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein Schicksal sonst gar nicht gleichgültig ist. Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, da? uns die Ruhe, die wir au?er derselben genie?en, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, da? es fremden Beistandes nach und nach kann entbehren lernen. Auf der andern Seite gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit, aber man denke ihn zugleich von gef?lligen Freunden umgeben, die ihn an nichts Mangel leiden lassen, die sein übel, soviel in ihren Kr?ften stehet, erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben, aber dieses Mitleid dauert nicht in die L?nge, endlich zucken wir die Achsel und verweisen ihn zur Geduld. Nur wenn beide F?lle zusammenkommen, wenn der Einsame auch seines K?rpers nicht m?chtig ist, wenn dem Kranken ebensowenig jemand anders hilft, als er sich selbst helfen kann, und seine Klagen in der ?den Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen zusammenschlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und Entsetzen. Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist st?rker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischet. Von dieser Art ist das Mitleid, welches wir für den Philoktet empfinden, und in dem Augenblicke am st?rksten empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubt sehen, des einzigen, was ihm sein kümmerliches Leben erhalten mu?te.-O des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen, kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat! Oder wann er es gehabt hat, der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles dieses aufzuopfern. Chateaubrun gibt dem Philoktet Gesellschaft. Er l??t eine Prinzessin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen. Und auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bei sich; ein Ding, von dem ich nicht wei?, ob es die Prinzessin oder der Dichter n?tiger gebraucht hat. Das ganze vortreffliche Spiel mit dem Bogen hat er weggelassen. Dafür l??t er sch?ne Augen spielen. Freilich würden Pfeil und Bogen der franz?sischen Heldenjugend sehr lustig vorgekommen sein. Nichts hingegen ist ernsthafter als der Zorn sch?ner Augen. Der Grieche martert uns mit der greulichen Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinen Bogen auf der wüsten Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen. Der Franzose wei? einen gewissern Weg zu unserm Herzen: er l??t uns fürchten, der Sohn des Achilles werde ohne seine Prinzessin abziehen müssen. Dieses hie?en denn auch die Pariser Kunstrichter, über die Alten triumphieren, und einer schlug vor, das Chateaubrunsche Stück la difficulté vaincue zu benennen 2).
{1. Wenn der Chor das Elend des Philoktet in dieser Verbindung betrachtet, so scheinet ihn die hilflose Einsamkeit desselben ganz besonders zu rühren. In jedem Worte h?ren wir den geselligen Griechen. über eine von den hierher geh?rigen Stellen habe ich indes meinen Zweifel. Sie ist die (v. 201-205):
In' autoV hn prosouroV, ouk ecwn basin,
Oude tin' egcwrwn,
Kakogeitona par' v stonon antitupon
Barubrvt' apoklau-
seien aimathron.
Die gemeine Winshemsche übersetzung gibt dieses so:
Ventis expositus et pedibus captus
Nullum cohabitatorem
Nec vicinum ullum saltem malum habens, apud quem gemitum mutuum
Gravemque ac cruentum
Ederet.
Hiervon weicht die interpolierte übersetzung des Th. Johnson nur in den Worten ab:
Ubi ipse ventis erat expositus, firmum gradum non habens,
Nec quenquam indigenarum,
Nec malum vicinum, apud quem ploraret
Vehementer edacem
Sanguineum morbum, mutuo gemitu.
Man sollte glauben, er habe diese ver?nderten Worte aus der gebundenen übersetzung des Thomas Naogeorgus entlehnet. Denn dieser (sein Werk ist sehr selten, und Fabricius selbst hat es nur aus dem Oporinschen Bücherverzeichnisse gekannt) drückt sich so aus:
-ubi expositus fuit
Ventis ipse, gradum firmum haud habens,
Nec quenquam indigenam, nec vel malum
Vicinum, ploraret apud quem
Vehementer edacem atque cruentum
Morbum mutuo.
Wenn diese übersetzungen ihre Richtigkeit haben, so sagt der Chor das St?rkste, was man nur immer zum Lobe der menschlichen Gesellschaft sagen kann: Der Elende hat keinen Menschen um sich; er wei? von keinem freundlichen Nachbar; zu glücklich, wenn er auch nur einen b?sen Nachbar h?tte! Thomson würde sodann diese Stelle vielleicht vor Augen gehabt haben, wenn er den gleichfalls in eine wüste Insel von B?sewichtern ausgesetzten Melisander sagen l??t:
Cast on the wildest of the Cyclad isles,
Where never human foot had marked the shore,
These ruffians left me-yet beliefe me, Arcas,
Such is the rooted love we bear mankind,
All ruffians as they were, I never heard
A sound so dismal as their parting oars.
Auch ihm w?re die Gesellschaft von B?sewichtern lieber gewesen, als gar keine. Ein gro?er vortrefflicher Sinn! Wenn es nur gewi? w?re, da? Sophokles auch wirklich so etwas gesagt h?tte. Aber ich mu? ungern bekennen, da? ich nichts dergleichen bei ihm finde; es w?re denn, da? ich lieber mit den Augen des alten Scholiasten, als mit meinen eigenen sehen wollte, welcher die Worte des Dichters so umschreibt: Ou monon opou kalon ouk eice tina tvn egcwriwn geitona, alla oude kakon, par' ou amoibaion logon stenazwn akouseie. Wie dieser Auslegung die angeführten übersetzer gefolgt sind, so hat sich auch ebensowohl Brumoy, als unser neuer deutscher übersetzer daran gehalten. Jener sagt, sans société, même importune: und dieser "jeder Gesellschaft, auch der beschwerlichsten beraubet". Meine Gründe, warum ich von ihnen allen abgehen mu?, sind diese. Erstlich ist es offenbar, da? wenn kakogeitona von tin' egcwrwn getrennt werden, und ein besonders Glied ausmachen sollte, die Partikel oude vor kakogeitona notwendig wiederholt sein mü?te. Da sie es aber nicht ist, so ist es ebenso offenbar, da? kakogeitona zu tina geh?ret, und das Komma nach egcwrwn wegfallen mu?. Dieses Komma hat sich aus der übersetzung eingeschlichen, wie ich denn wirklich finde, da? es einige ganz griechische Ausgaben (z. E. die wittenbergische von 1585 in Oktav, welche dem Fabricius v?llig unbekannt geblieben) auch gar nicht haben, und es erst, wie geh?rig, nach kakogeitona setzen. Zweitens ist das wohl ein b?ser Nachbar, von dem wir uns stonon antitupon, amoibaion, wie es der Scholiast erkl?rt, versprechen k?nnen? Wechselsweise mit uns seufzen, ist die Eigenschaft eines Freundes, nicht aber eines Feindes. Kurz also: man hat das Wort kakogeitona unrecht verstanden; man hat angenommen, da? es aus dem Adjectivo kakoV zusammengesetzt sei, und es ist aus dem Substantivo to kakon zusammengesetzt; man hat es durch einen b?sen Nachbar erkl?rt, und h?tte es durch einen Nachbar des B?sen erkl?ren sollen. So wie kakomantiV nicht einen b?sen, das ist falschen, unwahren Propheten, sondern einen Propheten des B?sen, kakotecnoV nicht einen b?sen, ungeschickten Künstler, sondern einen Künstler im B?sen bedeuten. Unter einem Nachbar des B?sen versteht der Dichter aber denjenigen, welcher entweder mit gleichen Unf?llen, als wir, behaftet ist, oder aus Freundschaft an unsern Unf?llen Anteil nimmt; so da? die ganzen Worte oud' ecwn tin' egcwrwn kakogeitona blo? durch neque quenquam indigenarum mali socium habens zu übersetzen sind. Der neue englische übersetzer des Sophokles, Thomas Franklin, kann nicht anders als meiner Meinung gewesen sein, indem er den b?sen Nachbar in kakogeitwn auch nicht findet, sondern es blo? durch fellow-mourner übersetzt:
Expos'd to the inclement skies,
Deserted and forlorn he lyes,
No friend nor fellow-mourner there,
To sooth his sorrow, and divide his care.}
{2. Mercure de France, Avril 1755. p. 177.}
3. Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzelnen Szenen, in welchen Philoktet nicht mehr der verlassene Kranke ist; wo er Hoffnung hat, nun bald die trostlose Ein?de zu verlassen und wieder in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschr?nkt. Er wimmert, er schreiet, er bekommt die gr??lichsten Zuckungen. Hierwider gehet eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engl?nder, welcher diesen Einwurf macht; ein Mann also, bei welchem man nicht leicht eine falsche Delikatesse argw?hnen darf. Wie schon berührt, so gibt er ihm auch einen sehr guten Grund. Alle Empfindungen und Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig sympathisieren k?nnen, werden anst??ig, wenn man sie zu heftig ausdrückt 1). "Aus diesem Grunde ist nichts unanst?ndiger, und einem Manne unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten, nicht mit Geduld ertragen kann, sondern weinet und schreiet. Zwar gibt es eine Sympathie mit dem k?rperlichen Schmerze. Wenn wir sehen, da? jemand einen Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, so fahren wir natürlicherweise zusammen, und ziehen unsern eigenen Arm, oder Schienbein, zurück; und wenn der Schlag wirklich geschieht, so empfinden wir ihn gewisserma?en ebensowohl, als der, den er getroffen. Gleichwohl aber ist es gewi?, da? das übel, welches wir fühlen, gar nicht betr?chtlich ist; wenn der Geschlagene daher ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht ihn zu verachten, weil wir in der Verfassung nicht sind, ebenso heftig schreien zu k?nnen, als er."-Nichts ist betrüglicher, als allgemeine Gesetze für unsere Empfindungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, da? es auch der behutsamsten Spekulation kaum m?glich ist, einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzf?den zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nutzen hat es? Es gibt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung g?nzlich ver?ndert, so da? Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf eine blo?e Erfahrung in wenig einzeln F?llen einschr?nken.-Wir verachten denjenigen, sagt der Engl?nder, den wir unter k?rperlichen Schmerzen heftig schreien h?ren. Aber nicht immer: nicht zum ersten Male; nicht, wenn wir sehen, da? der Leidende alles m?gliche anwendet, seinen Schmerz zu verbei?en; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen; noch weniger, wenn wir ihn selbst unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, da? ihn der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, da? er sich lieber der l?ngern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ?ndert, ob er schon in dieser Ver?nderung die g?nzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. Das alles findet sich bei dem Philoktet. Die moralische Gr??e bestand bei den alten Griechen in einer ebenso unver?nderlichen Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde. Diese Gr??e beh?lt Philoktet bei allen seinen Martern. Sein Schmerz hat seine Augen nicht so vertrocknet, da? sie ihm keine Tr?nen über das Schicksal seiner alten Freunde gew?hren k?nnten. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, da? er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben, und sich gern zu allen ihren eigennützigen Absichten brauchen lassen m?chte. Und diesen Felsen von einem Manne h?tten die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern k?nnen, ihn wenigstens ert?nen machen?-Ich bekenne, da? ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweiten Buche seiner tuskulanischen Fragen über die Erduldung des k?rperlichen Schmerzes auskramet. Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den ?u?erlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheinet er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen, da? er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann. Er h?rt bei dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien, und übersieht sein übriges standhaftes Betragen g?nzlich. Wo h?tte er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter hergenommen? "Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die tapfersten M?nner klagend einführen." Sie müssen sie klagen lassen; denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter kam es zu, alles mit Anstand zu tun und zu leiden. Von ihm mu?te kein kl?glicher Laut geh?ret, keine schmerzliche Zuckung erblickt werden. Denn da seine Wunden, sein Tod die Zuschauer erg?tzen sollten: so mu?te die Kunst alles Gefühl verbergen lehren. Die geringste ?u?erung desselben h?tte Mitleiden erweckt, und ?fters erregtes Mitleiden würde diesen frostig grausamen Schauspielen bald ein Ende gemacht haben. Was aber hier nicht erregt werden sollte, ist die einzige Absicht der tragischen Bühne, und fodert daher ein gerade entgegengesetztes Betragen. Ihre Helden müssen Gefühl zeigen, müssen ihre Schmerzen ?u?ern, und die blo?e Natur in sich wirken lassen. Verraten sie Abrichtung und Zwang, so lassen sie unser Herz kalt, und Klopffechter im Kothurne k?nnen h?chstens nur bewundert werden. Diese Benennung verdienen alle Personen der sogenannten Senecaschen Trag?dien, und ich bin der festen Meinung, da? die gladiatorischen Spiele die vornehmste Ursache gewesen, warum die R?mer in dem Tragischen noch so weit unter dem Mittelm??igen geblieben sind. Die Zuschauer lernten in dem blutigen Amphitheater alle Natur verkennen, wo allenfalls ein Ktesias seine Kunst studieren konnte, aber nimmermehr ein Sophokles. Das tragischste Genie, an diese künstliche Todesszenen gew?hnet, mu?te auf Bombast und Rodomontaden verfallen. Aber so wenig als solche Rodomontaden wahren Heldenmut einfl??en k?nnen, ebensowenig k?nnen Philoktetische Klagen weichlich machen. Die Klagen sind eines Menschen, aber die Handlungen eines Helden. Beide machen den menschlichen Helden, der weder weichlich noch verh?rtet ist, sondern bald dieses bald jenes scheinet, so wie ihn itzt Natur, itzt Grunds?tze und Pflicht verlangen. Er ist das H?chste, was die Weisheit hervorbringen, und die Kunst nachahmen kann.
{1. The theory of moral sentiments, by Adam Smith. Part. I. sect. 2. chap. 1. p. 41. (London 1761.)}
4. Nicht genug, da? Sophokles seinen empfindlichen Philoktet vor der Verachtung gesichert hat; er hat auch allem andern weislich vorgebauet, was man sonst aus der Anmerkung des Engl?nders wider ihn erinnern k?nnte. Denn verachten wir schon denjenigen nicht immer, der bei k?rperlichen Schmerzen schreiet, so ist doch dieses unwidersprechlich, da? wir nicht so viel Mitleiden für ihn empfinden, als dieses Geschrei zu erfordern scheinet. Wie sollen sich also diejenigen verhalten, die mit dem schreienden Philoktet zu tun haben? Sollen sie sich in einem hohen Grade gerührt stellen? Es ist wider die Natur. Sollen sie sich so kalt und verlegen bezeigen, als man wirklich bei dergleichen F?lle zu sein pflegt? Das würde die widrigste Dissonanz für den Zuschauer hervorbringen. Aber, wie gesagt, auch diesem hat Sophokles vorgebauet. Dadurch n?mlich, da? die Nebenpersonen ihr eigenes Interesse haben; da? der Eindruck, welchen das Schreien des Philoktet auf sie macht, nicht das einzige ist, was sie besch?ftiget, und der Zuschauer daher nicht sowohl auf die Disproportion ihres Mitleids mit diesem Geschrei, als vielmehr auf die Ver?nderung achtgibt, die in ihren eigenen Gesinnungen und Anschl?gen durch das Mitleid, sei es so schwach oder so stark es will, entstehet, oder entstehen sollte. Neoptolem und der Chor haben den unglücklichen Philoktet hintergangen; sie erkennen, in welche Verzweiflung ihn ihr Betrug stürzen werde; nun bekommt er seinen schrecklichen Zufall vor ihren Augen; kann dieser Zufall keine merkliche sympathetische Empfindung in ihnen erregen, so kann er sie doch antreiben, in sich zu gehen, gegen so viel Elend Achtung zu haben, und es durch Verr?terei nicht h?ufen zu wollen. Dieses erwartet der Zuschauer, und seine Erwartung findet sich von dem edelmütigen Neoptolem nicht get?uscht. Philoktet, seiner Schmerzen Meister, würde den Neoptolem bei seiner Verstellung erhalten haben. Philoktet, den sein Schmerz aller Verstellung unf?hig macht, so h?chst n?tig sie ihm auch scheinet, damit seinen künftigen Reisegef?hrten das Versprechen, ihn mit sich zu nehmen, nicht zu bald gereue; Philoktet, der ganz Natur ist, bringt auch den Neoptolem zu seiner Natur wieder zurück. Diese Umkehr ist vortrefflich, und um so viel rührender, da sie von der blo?en Menschlichkeit bewirket wird. Bei dem Franzosen haben wiederum die sch?nen Augen ihren Teil daran 2). Doch ich will an diese Parodie nicht mehr denken.-Des n?mlichen Kunstgriffs, mit dem Mitleiden, welches das Geschrei über k?rperliche Schmerzen hervorbringen sollte, in den Umstehenden einen andern Affekt zu verbinden, hat sich Sophokles auch in den "Trachinerinnen" bedient. Der Schmerz des Herkules ist kein ermattender Schmerz; er treibt ihn bis zur Raserei, in der er nach nichts als nach Rache schnaubet. Schon hatte er in dieser Wut den Lichas ergriffen, und an dem Felsen zerschmettert. Der Chor ist weiblich; um so viel natürlicher mu? sich Furcht und Entsetzen seiner bemeistern. Dieses, und die Erwartung, ob noch ein Gott dem Herkules zu Hilfe eilen, oder Herkules unter diesem übel erliegen werde, macht hier das eigentliche allgemeine Interesse, welches von dem Mitleiden nur eine geringe Schattierung erh?lt. Sobald der Ausgang durch die Zusammenhaltung der Orakel entschieden ist, wird Herkules ruhig, und die Bewunderung über seinen letzten Entschlu? tritt an die Stelle aller andern Empfindungen. überhaupt aber mu? man bei der Vergleichung des leidenden Herkules mit dem leidenden Philoktet nicht vergessen, da? jener ein Halbgott, und dieser nur ein Mensch ist. Der Mensch sch?mt sich seiner Klagen nie; aber der Halbgott sch?mt sich, da? sein sterblicher Teil über den unsterblichen so viel vermocht habe, da? er wie ein M?dchen weinen und winseln müssen 3). Wir Neuern glauben keine Halbg?tter, aber der geringste Held soll bei uns wie ein Halbgott empfinden, und handeln.
{2. Act. Il. Sc. III. De mes déguisements que penserait Sophie? sagt der Sohn des Achilles.}
{3. Trach. v. 1088. 1089.
-ostiV wste parJenoV Bebruca kleiwn-}
Ob der Schauspieler das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes bis zur Illusion bringen k?nne, will ich weder zu verneinen noch zu bejahen wagen. Wenn ich f?nde, da? es unsere Schauspieler nicht k?nnten, so mü?te ich erst wissen, ob es auch ein Garrick nicht verm?gend w?re: und wenn es auch diesem nicht gel?nge, so würde ich mir noch immer die Sk?vop?ie und Deklamation der Alten in einer Vollkommenheit denken dürfen, von der wir heutzutage gar keinen Begriff haben.