Chapter 6 No.6

Meine Voraussetzung, da? die Künstler dem Dichter nachgeahmt haben, gereicht ihnen nicht zur Verkleinerung. Ihre Weisheit erscheinet vielmehr durch diese Nachahmung in dem sch?nsten Lichte. Sie folgten dem Dichter, ohne sich in der geringsten Kleinigkeit von ihm verführen zu lassen. Sie hatten ein Vorbild, aber da sie dieses Vorbild aus einer Kunst in die andere hinübertragen mu?ten, so fanden sie genug Gelegenheit selbst zu denken.

Und diese ihre eigene Gedanken, welche sich in den Abweichungen von ihrem Vorbilde zeigen, beweisen, da? sie in ihrer Kunst ebenso gro? gewesen sind, als er in der seinigen.

Nun will ich die Voraussetzung umkehren: der Dichter soll den

Künstlern nachgeahmt haben. Es gibt Gelehrte, die diese

Voraussetzung als eine Wahrheit behaupten 1). Da? sie historische

Gründe dazu haben k?nnten, wü?te ich nicht. Aber, da sie das

Kunstwerk so überschwenglich sch?n fanden, so konnten sie sich nicht

bereden, da? es aus so sp?ter Zeit sein sollte. Es mu?te aus der

Zeit sein, da die Kunst in ihrer vollkommensten Blüte war, weil es

daraus zu sein verdiente.

{1. Maffei, Richardson und noch neuerlich der Herr von Hagedorn. ("Betrachtungen über die Malerei" S. 37. Richardson, Traité de la peinture. Tome III. p. 513.) De Fontaines verdient es wohl nicht, da? ich ihn diesen M?nnern beifüge. Er h?lt zwar, in den Anmerkungen zu seiner übersetzung des Virgils, gleichfalls dafür, da? der Dichter die Gruppe in Augen gehabt habe; er ist aber so unwissend, da? er sie für ein Werk des Phidias ausgibt.}

Es hat sich gezeigt, da?, so vortrefflich das Gem?lde des Virgils ist, die Künstler dennoch verschiedene Züge desselben nicht brauchen k?nnen. Der Satz leidet also seine Einschr?nkung, da? eine gute poetische Schilderung auch ein gutes wirkliches Gem?lde geben müsse, und da? der Dichter nur insoweit gut geschildert habe, als ihm der Artist in allen Zügen folgen k?nne. Man ist geneigt, diese Einschr?nkung zu vermuten, noch ehe man sie durch Beispiele erh?rtet sieht; blo? aus Erw?gung der weitern Sph?re der Poesie, aus dem unendlichen Felde unserer Einbildungskraft, aus der Geistigkeit ihrer Bilder, die in gr??ter Menge und Mannigfaltigkeit nebeneinander stehen k?nnen, ohne da? eines das andere deckt oder sch?ndet, wie es wohl die Dinge selbst, oder die natürlichen Zeichen derselben in den engen Schranken des Raumes oder der Zeit tun würden.

Wenn aber das Kleinere das Gr??ere nicht fassen kann, so kann das Kleinere in dem Gr??ern enthalten sein. Ich will sagen; wenn nicht jeder Zug, den der malende Dichter braucht, eben die gute Wirkung auf der Fl?che oder in dem Marmor haben kann: so m?chte vielleicht jeder Zug, dessen sich der Artist bedienet, in dem Werke des Dichters von ebenso guter Wirkung sein k?nnen? Ohnstreitig; denn was wir in einem Kunstwerke sch?n finden, das findet nicht unser Auge, sondern unsere Einbildungskraft, durch das Auge, sch?n. Das n?mliche Bild mag also in unserer Einbildungskraft durch willkürliche oder natürliche Zeichen wieder erregt werden, so mu? auch jederzeit das n?mliche Wohlgefallen, obschon nicht in dem n?mlichen Grade, wieder entstehen.

Dieses aber eingestanden, mu? ich bekennen, da? mir die Voraussetzung, Virgil habe die Künstler nachgeahmet, weit unbegreiflicher wird, als mir das Widerspiel derselben geworden ist. Wenn die Künstler dem Dichter gefolgt sind, so kann ich mir von allen ihren Abweichungen Rede und Antwort geben. Sie mu?ten abweichen, weil die n?mlichen Züge des Dichters in ihrem Werke Unbequemlichkeiten verursacht haben würden, die sich bei ihm nicht ?u?ern. Aber warum mu?te der Dichter abweichen? Wann er der Gruppe in allen und jeden Stücken treulich nachgegangen w?re, würde er uns nicht immer noch ein vortreffliches Gem?lde geliefert haben 2)? Ich begreife wohl, wie seine vor sich selbst arbeitende Phantasie ihn auf diesen und jenen Zug bringen k?nnen; aber die Ursachen, warum seine Beurteilungskraft sch?ne Züge, die er vor Augen gehabt, in diese andere Züge verwandeln zu müssen glaubte, diese wollen mir nirgends einleuchten.

{2. Ich kann mich desfalls auf nichts Entscheidenderes berufen, als auf das Gedichte des Sadolet. Es ist eines alten Dichters würdig, und da es sehr wohl die Stelle eines Kupfers vertreten kann, so glaube ich es hier ganz einrücken zu dürfen.

DE LAOCOONTIS STATUA JACOBI SADOLETI CARMEN.

Ecce alto terrae e cumulo, ingentisque ruinae

Visceribus, iterum reducem longinqua reduxit

Laocoonta dies; aulis regalibus olim

Qui stetit, atque tuos ornabat, Tite, penates.

Divinae simulacrum artis, nec docta vetustas

Nobilius spectabat opus, nunc celsa revisit

Exemptum tenebris redivivae moenia Romae.

Quid primum summumve loquar? miserumne parentem

Et prolem geminam? an sinuatos flexibus angues

Terribili aspectu? caudasque irasque draconum

Vulneraque et veros, saxo moriente, dolores?

Horret ad haec animus, mutaque ab imagine pulsat

Pectora non parvo pietas commixta tremori.

Prolixum bini spiris glomerantur in orbem

Ardentes colubri, et sinuosis orbibus errant

Ternaque multiplici constringunt corpora nexu.

Vix oculi sufferre valent, crudele tuendo

Exitium, casusque feros: micat alter, et ipsum

Laocoonta petit, totumque infraque supraque

Implicat er rabido tandem ferit ilia morsu.

Connexum refugit corpus, torquentia sese

Membra, latusque retro sinuatum a vulnere cernas

Ille dolore acri, et laniatu impulsus acerbo,

Dat gemitum ingentem, crudosque evellere dentes

Connixus, laevam impatiens ad terga Chelydri

Objicit: intendunt nervi, collectaque ab omni

Corpore vis frustra summis conatibus instat.

Ferre nequit rabiem, et de vulnere murmur anhelum est.

At serpens lapsu crebro redeunte subintrat

Lubricus, intortoque ligat genua infima nodo.

Absistunt surae, spirisque prementibus arctum

Crus tumet, obsepto turgent vitalia pulsu,

Liventesque atro distendunt sanguine venas.

Nec minus in natos eadem vis effera saevit

Implexuque angit rapido, miserandaque membra

Dilacerat: jamque alterius depasta cruentum

Pectus, suprema genitorem voce cientis,

Circumjectu orbis, validoque volumine fulcit.

Alter adhuc nullo violatus corpora morsu,

Dum parat adducta caudam divellere planta,

Horret ad adspectum miseri patris, haeret in illo,

Er jam jam ingentes fletus, lacrimasque cadentes

Anceps in dubio retinet timor. Ergo perenni

Qui tantum statuistis opus jam laude nitentes,

Artifices magni (quanquam et melioribus actis

Quaeritur aeternum nomen, multoque licebat

Clarius ingenium venturae tradere famae)

Attamen ad laudem quaecunque oblata facultas

Egregium hanc rapere, et summa ad fastigia niti.

Vos rigidum lapidem vivis animare figuris

Eximii, et vivos spiranti in marmore sensus

Inserere, aspicimus motumque iramque doloremque,

Et paene audimus gemitus: vos extulit olim

Clara Rhodos, vestrac jacuerunt artis honores

Tempore ab immenso, quos rursum in luce secunda

Roma videt, celebratque frequens: operisque vetusti

Gratia parta recens. Quanto praestantius ergo est

Ingenio, aut quovis extendere fata labore,

Quam fastus et opes et inanem extendere luxum.

(v. Leodegarii a Quercu Farrago poematum T. II. p. 63.) Auch Gruter hat dieses Gedicht, nebst andern des Sadolets, seiner bekannten Sammlung (Delic. Poet. Italorum Parte alt. p. 582) mit einverleibet; allein sehr fehlerhaft. Für bini (v. 14) lieset er vivi; für errant (v. 15) oram usw.}

Mich dünket sogar, wenn Virgil die Gruppe zu seinem Vorbilde gehabt h?tte, da? er sich schwerlich würde haben m??igen k?nnen, die Verstrickung aller drei K?rper in einen Knoten gleichsam nur erraten zu lassen. Sie würde sein Auge zu lebhaft gerührt haben, er würde eine zu treffliche Wirkung von ihr empfunden haben, als da? sie nicht auch in seiner Beschreibung mehr vorstechen sollte. Ich habe gesagt: es war itzt die Zeit nicht, diese Verstrickung auszumalen. Nein; aber ein einziges Wort mehr würde ihr in dem Schatten, worin sie der Dichter lassen mu?te, einen sehr entscheidenden Druck vielleicht gegeben haben. Was der Artist, ohne dieses Wort, entdecken konnte, würde der Dichter, wenn er es bei dem Artisten gesehen h?tte, nicht ohne dasselbe gelassen haben.

Der Artist hatte die dringendsten Ursachen, das Leiden des Laokoon nicht in Geschrei ausbrechen zu lassen. Wenn aber der Dichter die so rührende Verbindung von Schmerz und Sch?nheit in dem Kunstwerke vor sich gehabt h?tte, was h?tte ihn ebenso unvermeidlich n?tigen k?nnen, die Idee von m?nnlichem Anstande und gro?mütiger Geduld, welche aus dieser Verbindung des Schmerzes und der Sch?nheit entspringt, so v?llig unangedeutet zu lassen, und uns auf einmal mit dem gr??lichen Geschrei seines Laokoons zu schrecken? Richardson sagt: Virgils Laokoon mu? schreien, weil der Dichter nicht sowohl Mitleid für ihn, als Schrecken und Entsetzen bei den Trojanern, erregen will. Ich will es zugeben, obgleich Richardson nicht erwogen zu haben scheinet, da? der Dichter die Beschreibung nicht in seiner eignen Person macht, sondern sie den Aeneas machen l??t, und gegen die Dido machen l??t, deren Mitleid Aeneas nicht genug bestürmen konnte. Allein mich befremdet nicht das Geschrei, sondern der Mangel aller Gradation bis zu diesem Geschrei, auf welche das Kunstwerk den Dichter natürlicherweise h?tte bringen müssen, wann er es, wie wir voraussetzen, zu seinem Vorbilde gehabt h?tte. Richardson füget hinzu 3): die Geschichte des Laokoon solle blo? zu der pathetischen Beschreibung der endlichen Zerst?rung leiten; der Dichter habe sie also nicht interessanter machen dürfen, um unsere Aufmerksamkeit, welche diese letzte schreckliche Nacht ganz fordere, durch das Unglück eines einzeln Bürgers nicht zu zerstreuen. Allein das hei?t die Sache aus einem malerischen Augenpunkte betrachten wollen, aus welchem sie gar nicht betrachtet werden kann. Das Unglück des Laokoon und die Zerst?rung sind bei dem Dichter keine Gem?lde nebeneinander; sie machen beide kein Ganzes aus, das unser Auge auf einmal übersehen k?nnte oder sollte; und nur in diesem Falle w?re es zu besorgen, da? unsere Blicke mehr auf den Laokoon, als auf die brennende Stadt fallen dürften. Beider Beschreibungen folgen aufeinander, und ich sehe nicht, welchen Nachteil es der folgenden bringen k?nnte, wenn uns die vorhergehende auch noch so sehr gerührt h?tte. Es sei denn, da? die folgende an sich selbst nicht rührend genug w?re.

{3. De la peinture, Tome III. p. 516. C'est l'horreur que les Troiens ont con?ue contre Laocoon, qui était nécessaire à Virgile pour la conduite de son poème; et cela le mène à cette description pathétique de la destruction de la patrie de son héros. Aussi Virgile n'avait garde de diviser l'attention sur la dernière nuit, pour une grande ville entière, par la peinture d'un petit malheur d'un particulier.}

Noch weniger Ursache würde der Dichter gehabt haben, die Windungen der Schlangen zu ver?ndern. Sie besch?ftigen in dem Kunstwerke die H?nde, und verstricken die Fü?e. So sehr dem Auge diese Verteilung gef?llt, so lebhaft ist das Bild, welches in der Einbildung davon zurückbleibt. Es ist so deutlich und rein, da? es sich durch Worte nicht viel schw?cher darstellen l??t, als durch natürliche Zeichen.

-micat alter, et ipsum

Laocoonta petit, totumque infraque supraque

Implicat et rabido tandem ferit ilia morsu

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At serpens lapsu crebro redeunte subintrat

Lubricus, intortoque ligat genua infima nodo.

Das sind Zeilen des Sadolet, die von dem Virgil ohne Zweifel noch malerischer gekommen w?ren, wenn ein sichtbares Vorbild seine Phantasie befeuert h?tte, und die alsdann gewi? besser gewesen w?ren, als was er uns itzt dafür gibt:

Bis medium amplexi, bis collo squamea circum

Terga dati, superant capite et cervicibus altis.

Diese Züge füllen unsere Einbildungskraft allerdings; aber sie mu? nicht dabei verweilen, sie mu? sie nicht aufs reine zu bringen suchen, sie mu? itzt nur die Schlangen, itzt nur den Laokoon sehen, sie mu? sich nicht vorstellen wollen, welche Figur beide zusammen machen. Sobald sie hierauf verf?llt, f?ngt ihr das Virgilische Bild an zu mi?fallen, und sie findet es h?chst unmalerisch.

W?ren aber auch schon die Ver?nderungen, welche Virgil mit dem ihm geliehenen Vorbilde gemacht h?tte, nicht unglücklich, so w?ren sie doch blo? willkürlich. Man ahmet nach, um ?hnlich zu werden; kann man aber ?hnlich werden, wenn man über die Not ver?ndert? Vielmehr wenn man dieses tut, ist der Vorsatz klar, da? man nicht ?hnlich werden wollen, da? man also nicht nachgeahmt habe.

Nicht das Ganze, k?nnte man einwenden, aber wohl diesen und jenen Teil. Gut; doch welches sind denn diese einzeln Teile, die in der Beschreibung und in dem Kunstwerke so genau übereinstimmen, da? sie der Dichter aus diesem entlehnet zu haben scheinen k?nnte? Den Vater, die Kinder, die Schlangen, das alles gab dem Dichter sowohl als dem Artisten, die Geschichte. Au?er dem Historischen kommen sie in nichts überein, als darin, da? sie Kinder und Vater in einen einzigen Schlangenknoten verstricken. Allein der Einfall hierzu entsprang aus dem ver?nderten Umstande, da? den Vater eben dasselbe Unglück betroffen habe, als die Kinder. Diese Ver?nderung aber, wie oben erw?hnt worden, scheinet Virgil gemacht zu haben; denn die griechische Tradition sagt ganz etwas anders. Folglich, wenn in Ansehung jener gemeinschaftlichen Verstrickung, auf einer oder der andern Seite Nachahmung sein soll, so ist sie wahrscheinlicher auf der Seite der Künstler, als des Dichters zu vermuten. In allem übrigen weicht einer von dem andern ab; nur mit dem Unterschiede, da? wenn es der Künstler ist, der die Abweichungen gemacht hat, der Vorsatz den Dichter nachzuahmen noch dabei bestehen kann, indem ihn die Bestimmung und die Schranken seiner Kunst dazu n?tigten; ist es hingegen der Dichter, welcher dem Künstler nachgeahmt haben soll, so sind alle die berührten Abweichungen ein Beweis wider diese vermeintliche Nachahmung, und diejenigen, welche sie demohngeachtet behaupten, k?nnen weiter nichts damit wollen, als da? das Kunstwerk ?lter sei, als die poetische Beschreibung.

            
            

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