/0/3057/coverbig.jpg?v=192a68cd99d63b9c03292b52fae55908)
Früher als sonst stellte sich der Frühling ein. Dem sp?ten, aber immer noch winterlichen Ostern folgten warme Tage. Was an Str?uchern im M?rz schon seine ersten vorsichtigen Taster ausgestreckt hatte, wagte sich im April zuversichtlich heraus.
Ueberall ein Schwellen und Knospen. Grüner Hauch über Busch und Baum. Es gab schon einzelne hei?e Tage, an denen der Ueberzieher l?stig wurde, und man an die Sommergarderobe dachte.
Eine weiche, milde Luft wehte, und die Wittfoth ?ffnete ihr die Thür ihres Kellergew?lbes. Mit der zunehmenden W?rme stand diese den ganzen Tag auf. Fr?ulein Mimi hatte dann ihren best?ndigen Sitz hinter der Tonbank, weil die Glocke nicht mehr die eintretenden Kunden melden konnte.
Die Dienstm?dchen, die jetzt durch die immer ge?ffnete Thür bequem "mal
vorspringen" konnten, hatten ihre sommerlichen, kurz?rmeligen
Kattunkleider angelegt, die ihnen so gut stehen. Die frischen, vollen
Arme waren nicht mehr blau und rot gefroren.
An der Ecke gegenüber, beim Gastwirt Tetje Jürgens, der unter dem
Parterre des Behnschen Hauses einen "Bier- und Frühstückskeller" seit
Jahren hatte, hielt schon die erste offene Break mit Ausflüglern.
Singend waren sie angekommen, singend fuhren sie nach einem hastigen
"Stehseidel" weiter.
Es war Frühling, sonnenwarmer Frühling.
Schon in den ersten Tagen des Mai konnte der alte Behn auf dem Holsteinischen Baum, einem Bier- und Tanzetablissement in der Nachbarschaft, sein Glas Grogk im Freien, unter der breiten, glasbedachten Veranda, trinken und den Uebergang von diesem Wintergetr?nk zum sommerlichen Trunk kühlen Augustinerbr?us bewerkstelligen.
Im Winter pflegte er allabendlich in dem ger?umigen, gemütlichen
Gastzimmer zwischen neun und zehn Uhr, nach dem Abendessen, seinen
Steifen zu trinken.
Einmal in der Woche hielt er eine l?ngere Skatsitzung ab.
Den Karten wurde auch im Sommer geopfert. Oft sa?en die Frauen und
Kinder in der Veranda bei einem Glas Bier oder einer Flasche
Brauselimonade, w?hrend sich die M?nner und V?ter im Gastzimmer beim
Spiel erhitzten.
Es war an einem solchen Skatabend, einem Mittwoch, als Lulu Behn mit der
Mutter und Schwester in der Veranda des Holsteinischen Baums die milde
Abendluft genossen. Es herrschte ein reges Leben um sie. An jedem
Mittwoch war in den hintern S?len gro?es Tanzvergnügen. Da sprachen die
K?chinnen und Dienstm?dchen, oft nur auf ein paar Minuten, vor, "nur
einmal rum". Zu Hause wartete indessen die Herrschaft auf den Belag zum
Abendbrot.
Wer Ausgehtag hatte, kam auch wohl in Balltoilette, mit Blumen im Haar, geführt von sonnt?glich geputzten jungen Burschen.
Schlachtergesellen in ihren gestreiften Leinenblousen, die Fleischmulde an der Thür absetzend, dr?ngten sich zu einem kurzen Rundtanz in den Saal. Hausknechte traten im Vorübergehen ein, Kutscher lie?en ihre Droschke halten, sprangen vom Bock und huldigten einen Augenblick den Freuden des Tanzes. "Damen" fanden sie immer im Ueberflu? im Saal vor, oder sie nahmen von den drau?en stehenden die erste beste mit hinein. Es gab immer neugierige oder schüchterne am Eingang, denen es an Mut, Zeit oder Geld gebrach, sich in den erleuchteten Saal zu wagen. Es war wie vor einem Bienenkorb. Ein best?ndiges Kommen und Gehen.
Lulu, die leidenschaftlich gerne tanzte, beneidete im Stillen jedes M?dchen, das am Arm seines Liebhabers lachend und ungeduldig dem über alles geliebten Walzer entgegeneilte.
Nun fuhr auch noch der junge Beuthien mit seiner Droschke vor, der vier etwas angeheiterte junge Burschen entstiegen. Jeder von ihnen trug eine rote Nelke im Knopfloch, und auch Wilhelm war auf diese Weise geschmückt.
"Kumm mit, min Jung", rief ihn einer seiner Fahrg?ste an.
"Ne, ne, lat man", str?ubte er sich, sah aber den Hineinschwankenden unschlüssig nach.
Ein hübsches Dienstm?dchen in hellrotem Kattunkleid und sauberer wei?er
Schürze mit Spitzenl?tzchen, nickte ihm im Vorübergehen wie einem alten
Bekannten zu. Die Kleine schien seinen Entschlu? zu bestimmen, und er
folgte ihr schnell.
Ob er Lulu bemerkt hatte? Es schien nicht so. Diese verging fast vor
Tanzlust, Neid und Eifersucht.
Paula hatte sich neugierig bis an die Saalthür gedr?ngt und kam nun mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen zurück.
"Du, ich hab auch getanzt", rief sie freudestrahlend und stolz.
"Du? Dummes G?r! T?f, dat vertell ik Vadder", schalt die Mutter.
Die Kleine wurde etwas bestürzt.
"Es war man blo? Beuthien", suchte sie sich zu entschuldigen. "Ich wollte erst gar nich, aber er zog mich hinein".
Lulu wurde blutrot. Diese Krabbe hatte mit ihm getanzt.
"Wie gemein", sagte sie naserümpfend.
"Ach Du", warf ihr die Kleine ver?chtlich über die Schulter zu.
"Da? Du mich nu hier bleibst", ermahnte die Mutter, der Nachbarn wegen, die am n?chsten Tische aufmerksam geworden waren, hochdeutsch sprechend.
"Geh mich nich wieder weg, das sag ich Dich", verspottete halblaut ein geschniegelter Kaufmannslehrling mit hellblauer Krawatte die scheltende Frau.
Lulu, die es h?rte, err?tete.
"Papa wird hoffentlich bald kommen, ich finde es unertr?glich hier", sagte sie laut und etwas affektiert, in dem Bestreben zu zeigen, da? man an ihrem Tisch auch ein reines Deutsch sprechen konnte.
Aber auch ihre gezierte Sprache fand ein sp?ttisches Echo an jenem Tisch ungezogener Grünschn?bel.
"Ich gehe nach Hause, ich bekomme Kopfweh hier", klagte Lulu und stand auf.
Die Mutter, gewohnt, gegen den Willen der Tochter nichts auszurichten, lie? sie gew?hren.
Am Ausgang wurde Lulu unsanft bei Seite gedr?ngt. Jenes hübsche Dienstm?dchen, dem Beuthien in den Saal gefolgt war, hastete an ihr vorüber.
"Marie Marie!" rief der Eiligen ein amtsfreier Brieftr?ger nach. Aber
Marie h?rte nicht.
Lulu, entrüstet über den Sto?, gewahrte, sich umsehend, auch Beuthien, eine Cigarre im Mund, langsam und wie gelangweilt aus dem Saal zurückkommen. Von neuen Ank?mmlingen am Weiterschreiten gehindert, mu?te sie ihn herankommen lassen. Sie berührten sich im Vorübergehen, aber er sah sie nicht, oder wollte sie nicht sehen.
Verstimmt zog sie sich zu Hause auf ihr Zimmer zurück.
Ihre Lampe war nicht gefüllt, und sie lie? ihren Aerger an Anna aus.
"Dat is Madamm ehr Sak, Se hebben mi nix to seggen," widersprach das
M?dchen.
"Dummes Ding," fuhr Lulu auf, und eine Ohrfeige brannte auf der Wange der verdutzten Ungehorsamen.
Ohne ein Wort zu wagen, erfüllte die Gema?regelte Lulus Befehle.
Diese pl?tzliche Energie des sonst so gleichmütigen, phlegmatischen
Fr?uleins imponierte ihr so, da? sie verstummte. Nur in der Küche ballte
sie heimlich eine Faust und brach eine ganze Viertelstunde sp?ter vor
Wut in Thr?nen aus.
Lulu hatte durch diese gewaltsame Entladung ihres aufgespeicherten Unmutes ihre Gemütsruhe wieder gewonnen. Sie stand schon lange auf keinen guten Fu? mit der Anna und freute sich, sie einmal "Mores" gelehrt zu haben.
Da? die Geschlagene die Züchtigung so ruhig einsteckte, hatte sie kaum erwartet. Das gab ihr Mut. Von jetzt an wollte sie anders auftreten.
Es war ihr, als h?tte sie sich mit dieser Ohrfeige zugleich an allen anderen M?dchen ger?cht, auf die sie erbost war, weil sie Beuthiens Umgang und Freundschaft genossen.
Sie lachte einmal im Genu? dieser eingebildeten Rachebefriedigung auf.
Am liebsten h?tte sie der Roten, mit der Beuthien vorhin getanzt, die
Ohrfeige versetzt, und der Paula gleichfalls, dem dummen G?r. Sie h?tte
sie knuffen m?gen, als sie so wichtig mit ihrem Erlebnis herausplatzte.
Anna hatte eigentlich die ihr zugefügte Schmach mit einer Kündigung beantworten wollen, besann sich aber mit Rücksicht auf die gute Stellung, die sie im Behnschen Hause hatte, eines andern.
Im Stillen n?hrte sie von jetzt an einen glühenden Ha? auf Lulu, der sie so viel als m?glich aus dem Wege ging.
Zwei Tage sp?ter war Lulu im Laden der Wittfoth zuf?llig Zeuge, wie jenes M?dchen, Beuthiens T?nzerin, erz?hlte, da? sie am Mittwoch mit dem jungen Fuhrmannssohn getanzt h?tte.
"Das is aber'n Flotten", schw?rmte sie. "De danzt', dat's 'n Staat is".
Am Sonntag wolle er wieder tanzen, erz?hlte sie weiter, im Ottensener Park. Leider aber h?tte ihre Madam gro?en Kaffee, und so k?nne sie nicht fort.
"Und er bat mir doch so herzlich", schlo? sie bedauernd.
Wie der Blitz kam Lulu der Gedanke: Da ist Gelegenheit. Dort kennt dich niemand. Am Sonntag besuchst Du den Ottensener Park.
Sie dachte nach, wie sie diesen abenteuerlichen Plan am leichtesten verwirklichen k?nnte. Sie war wie besessen von der Idee.
Eine in Altona wohnende Freundin fiel ihr ein, die derartigen leichtsinnigen Unternehmungen nicht abhold sein würde. Allein getraute sie sich nicht zu gehen. Vielleicht hatte jenes M?dchen, eine M?nteln?herin in einem gro?en Altonaer Konfektionsgesch?ft, irgend einen bekannten jungen Mann, der sie begleitete. Schlimmsten Falles konnte man jenes Lokal auch ohne Herrenbegleitung besuchen.
Die Freundin ging sofort auf ihren Vorschlag ein, Feuer und Flamme für ein Unternehmen, das pikanteste Unterhaltung versprach.
Man verabredete alles schriftlich, und Lulu sah in fieberhafter
Aufregung dem Sonntag entgegen.