Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohlt?tig, indem ein Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, Dr. Carlo Gabussi, Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte über den Proze? veranla?t hatten, nach München zu kommen, um Deruga allenfalls beizustehen. Die Freunde umarmten und kü?ten sich wieder und wieder, und es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenh?ngendes Gespr?ch zu führen imstande waren.
?Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?? sagte Deruga. ?Das ist doch der Mühe nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.?
?Unsinn,? sagte Gabussi, ?ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe heruntergekommen. Wenn ich aber etwas für dich tun k?nnte, w?re ich allerdings glücklich. Denke dir von den vielen Opfern, die du mir gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!?
?Ich dir?? lachte Deruga. ?Meinst du, da? du monatelang Tag für Tag bei mir sa?est, als ich krank im Spital lag??
?Nun ja,? sagte Gabussi, ?du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden, aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu sein, wo es so wenig Unterhaltung für mich gab. Du h?rtest mir zu, wenn ich von meiner Angebeteten erz?hlte, und machtest mir Gedichte für sie.?
Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet h?tten.
?Nein,? sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. ?Dadurch, da? meine Mutter bei mir wohnt, und da? meine arme Schwester lahm ist, kann ich nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen k?nnte sie auf meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht angestellt. Aber ich bin ja so glücklich, da? ich meine Mutter noch habe! Sie ist jetzt so leicht, da? ich sie auf einem Arme tragen kann, und ich trage sie jeden Abend ins Bett, obwohl sie sich fürchtet; aber ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Natürlich, meine Lisa hat jetzt einige wei?e Haare in ihren sch?nen schwarzen Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende Hand zurückgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so gut und fr?hlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand hingen! Aber das ist ja selbstsüchtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter, lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen h?llischen Wirrwarr verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst! Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.?
?Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,? sagte Deruga, ?denn ohne sie h?tte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bi?chen magerer bist du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene Gesicht!?
?Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,? entgegnete Gabussi. ?Du siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. La? uns spazierengehen - oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst mir die Stadt und die Umgegend.?
Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die tauenden Stra?en, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen Geleit begleitet. Deruga sa? behaglich zurückgelehnt und gab Antwort auf die Fragen Gabussis, den die stattlichen Pl?tze und Geb?ude entzückten. In einer stillen Stra?e, in die der Kutscher, dessen Gutdünken sie die Führung überlie?en, einlenkte, erkannte Deruga pl?tzlich ein schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den H?usern entlang führte, lag verlassen, und das Fliedergebüsch war noch unbelaubt, nur eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen hinüber.
?Was ist dir?? fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend, der sich aufgerichtet hatte.
?Wir fuhren eben an dem Hause vorüber, wo die arme Marmotte wohnte,? sagte Deruga.
Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: ?Du warst doch einmal glücklich, Dodo.?
?Nein, damals nicht,? erwiderte dieser. ?Mein Gemüt war zu ruhelos, mein Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich mü?te ein Gott sein, um mit meinen Gaben glücklich zu sein.?
?Es ist doch aber auch sch?n, so begabt zu sein, wie du bist,? sagte Gabussi. ?Wei?t du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte: 'Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein h?llisches Feuer, die Vernunft ist ein g?ttliches Licht. Und Vernunft hat mancher alte Besenbinder mehr als du.'?
Deruga lachte. ?Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,? sagte er. ?Und wei?t du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es würde ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein Heiliger würde.?
Der Wagen hatte inzwischen die st?dtischen Anlagen erreicht, und sie sahen einen schnellen, starken Flu? unter den dicken St?mmen alter Weiden und Pappeln durch weite Wiesen flie?en. Eine schwere Erinnerung aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und tr?umerisch.
?Damals, als wir Buben waren,? sagte Gabussi, ?da warst du doch glücklich.?
?Wenn ich nicht tief unter dem Glück immer gefühlt h?tte, wie h??lich, armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,? sagte Deruga.
?Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!? rief Gabussi aus. ?Und wei?t du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn meine Mutter dich auf die Stirn kü?te und 'kleiner Fremdling' nannte? Und wie wir unter dem Dache sa?en und unsere Aufgaben lernten und uns vor jedem Schatten fürchteten??
Als die Freunde von der Fahrt zurückkehrten, war eine wohlige Zufriedenheit über Deruga gekommen.
?Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,? sagte er zu Gabussi, ?werde ich ein neues Leben anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die Berge k?me??
?Aber, Dodo,? sagte Gabussi au?er sich vor Freude, ?das w?re ein Paradies für mich. Und wie würden meine Mutter und meine Schwester sich freuen! Und meine Lisa für mich! Das gr??te Glück für meine Lisa ist, wenn mir etwas Glückliches begegnet. Zu denken, da? du mich zuzeiten auf meinen G?ngen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen austauschen wie heute!?
Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male ungeh?rt in das laute Gespr?ch geklungen hatte. Als Gabussi zur Tür ging und ?ffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges M?dchen mit gro?en, dunkelbraunen Augen, die ihn ?ngstlich, doch mit Feuer, ansahen.
?Ich wünsche Herrn Dr. Deruga zu sprechen,? sagte eine helle, von der Erregung etwas ged?mpfte und zitternde Stimme. ?Sind Sie es??
Gabussi schüttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle.
?Nein, bleibe,? bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er fragte das Fr?ulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen.
?Ich bin Mingo von Truschkowitz,? sagte die kleine Dame, ?und komme, um Ihnen zu sagen, da? es mir sehr leid tut, da? meine Mutter den Proze? gegen Sie angefangen hat, und da? ich nichts, gar nichts damit zu tun habe. Da meine Tante Ihnen das Verm?gen vermacht hat, kommt es Ihnen zu. überhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich nie um Frau Swieter bekümmert hat.?
?Armes Kind,? sagte Deruga, ?es mu? Ihnen schwer geworden sein, so allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie würde meine kleine Mingo jetzt auch sein,? setzte er nach einer Pause hinzu, w?hrend welcher seine Augen liebevoll auf ihr geruht hatten.
?Dasselbe,? sagte Mingo und z?gerte einen Augenblick, ?sagte Ihre verstorbene Frau, als sie mich sah.?
?Haben Sie meine Frau einmal besucht?? fragte Deruga. ?Wann war es? Erz?hlen Sie mir davon.?
?Es war vor acht Jahren,? berichtete Mingo. ?Ich besuchte sie, weil ich so vieles von ihr geh?rt hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles herk?mmlich und allt?glich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen, da? irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr bestünde, weil ich so hei?e wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein geheimnisvolles M?rchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen, wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen mu?te. Vielleicht hatte mein Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind erinnerte.?
?So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,? sagte Deruga warm. ?Nach Ihrer Meinung,? fragte er nach einer Pause, ?bin ich also mit Unrecht angeklagt??
?Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erz?hlte,? sagte sie mit Nachdruck, ?bin ich überzeugt, da? Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide getan haben.?
?Ich habe ihr viel zuleide getan,? sagte Deruga, ?aber aus Liebe.?
?Das z?hlt nicht,? sagte Mingo entschieden und fuhr z?gernd fort: ?Ihre Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.?
?Es scheint aber nicht, da? es ?hnlich war,? sagte Deruga lachend, ?oder ich habe mich seitdem sehr ver?ndert.?
?Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,? sagte sie.
Gabussi beteuerte, da? sein Freund sich nur zu seinem Vorteil ver?ndert habe, und forderte das kleine Fr?ulein dringend auf, dies Urteil zu best?tigen.
?Das wei? ich nicht,? sagte sie, tief err?tend, ?aber wie ein alter Mann sieht Herr Deruga nicht aus.?
?Ihnen gegenüber bin ich sehr alt und weise,? sagte Deruga gütig, ?und verm?ge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gl?ubiger werden zu k?nnen. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind, aber nicht ohne den Ton z?rtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das??
Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo v?llig überwunden ihre kleine legte.
Carlo Gabussi umarmte, als das Fr?ulein gegangen war, seinen Freund mit Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die eine Teufelin sein müsse.
?Wenn sie das noch w?re,? sagte Deruga. ?Sie ist nur eine glatte, hohle, genu?süchtige Frau, zu oberfl?chlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein Bild unserer Gesellschaft, wo die gro?en R?uber geehrt und die kleinen gehangen werden. ?u?erlich ist sie nicht unangenehm.?
?Und warum ha?t sie dich so?? fragte Gabussi.
?Weil ich das Geld bekommen habe, worüber sie bereits zu ihren Gunsten verfügt hatte,? sagte Deruga. ?übrigens scheine ich ihr gar nicht zu mi?fallen.?
?Wie meinst du das?? fragte Gabussi. ?Hast du denn mit ihr gesprochen??
?Bis jetzt nur durch die Augen,? sagte Deruga. ?Aber ich verstehe mich ja gut auf Weiber. Wenn ich darauf einginge, w?re sie sehr geneigt, eine Liebelei mit mir anzufangen.?
?Aber, Dodo,? rief Gabussi entrüstet aus, ?das ist ja eine abscheuliche Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche Sachen nicht. K?nnte ich dich nur aus den Weibergeschichten herauswickeln, die die letzte Ursache deines Unglücks sind! Du solltest wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.?
?Für gesunde Seelen ausgezeichnet,? sagte Deruga. ?Aber Kranke brauchen warmen Dreck und mollige F?ulnis.?
?Unsinn,? sagte Gabussi in gro?er Erregung, ?der Satz ist Unsinn, und die Voraussetzung, da? du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu gutmütig. Versprich mir, da? du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus Mitleid. Schlie?lich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir kokettieren wollen, da? du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden l??t!?
Deruga wollte sich ausschütten vor Lachen über seinen Freund, der, mit den langen Armen gestikulierend, wie ein Bu?prediger vor ihm stand. ?Ich habe h?chstens Lust,? sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte, ?sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kr?nken und besch?men zu k?nnen. Ich verabscheue diese Person.?
?Ach, Dodo!? seufzte Gabussi, ?das ist schlüpfrig und gef?hrlich. La? sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entzückenden Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!?
In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. ?Kleine Mingo,? sagte er. ?Ihr m?chte ich wirklich nichts zuleide tun.?
?Siehst du,? sagte Gabussi eifrig. ?Es war ein Unglück, da? du deine Tochter verlieren mu?test. An ihrer Hand w?rest du gewi? nur reine, sch?ne Wege gegangen.?
?Oder ich h?tte sie mit mir in den Schlamm gezogen,? sagte Deruga, pl?tzlich verdüstert.
?Mensch, führe nicht so verzweifelte Reden!? schalt Gabussi, ?sonst k?nnte sogar ich an dir irre werden.?
Deruga umarmte und kü?te seinen Freund. ?Immer der alte,? lachte er. ?Hast du vergessen, da? man mich nicht so ernst nehmen mu?? Ich bin kein am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne weiteres genie?en, es mu? erst etwas Schmutz herausgekocht und abgesch?umt werden. Hast du das vergessen??
Auch Gabussi lachte nun. ?Du hast recht, ich bin ein schwerf?lliger Dummkopf,? sagte er. ?Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner unglücklichen Lage manchmal tolle Launen überkommen. Der mu? vor allen Dingen ein Ende gemacht werden.?
Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus. Deruga habe zwar nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es bleibe zu vieles im Dunkeln, als da? jeder Verdacht aufgehoben würde, aber die vorhandenen Indizien genügten seiner Ansicht nach durchaus nicht, da? gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen k?nnten. Gabussis freundschaftliche Gefühle waren davon nicht befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen Deruga mit seinen Augen, das hei?t, wie er wirklich w?re, s?hen und ihn freispr?chen, nicht, weil er nicht überführt werden k?nnte, sondern von seiner Schuldlosigkeit überzeugt.
?Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,? sagte er. ?Sie haben nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. K?nnte man ein Gem?lde richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergro?es Stückchen davon betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren erz?hlen, so wie du bist, ohne übertreibung und künstliche Beleuchtung. Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen zusagen mu?.?
* * *
Gabussis Erscheinung machte einen günstigen Eindruck. Man fand, da? seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freimütiges Reden eines Deutschen würdig w?ren. Da er ein paar Semester in Wien studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und vorsichtig vorging. Er sei, erz?hlte er, mit dem Angeklagten seit früher Kindheit bekannt, sie h?tten dieselbe Schule und sp?ter dasselbe Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis, elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er geleistet, unter wie schwierigen Verh?ltnissen er sich durchgearbeitet habe.
?Worin bestanden die schwierigen Verh?ltnisse?? fragte der Vorsitzende.
?Seine Familienverh?ltnisse waren ungünstig,? erkl?rte Gabussi. ?Er wurde zu Hause viel besch?ftigt, so da? er oft die Nacht zu Hilfe nehmen mu?te, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.?
?Wie kam das?? fragte der Vorsitzende, ?was war sein Vater??
?Sein Vater war damals Obstverk?ufer,? antwortete Gabussi. ?Er hatte ein kleines Gew?lbe hinter dem alten Rathause.?
?So,? sagte der Vorsitzende, in den Akten bl?tternd. ?Nach Derugas Angabe war sein Vater Kaufmann.?
?Nun ja,? sagte Gabussi, ?ein Obstverk?ufer ist doch ein Kaufmann.?
?übrigens,? setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf seinen Freund warf, ?hat er nicht immer dieselbe Besch?ftigung gehabt. Er war ein guter, aber ruheloser Mann.?
Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausführlicher zu charakterisieren.
Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein ma?gebendes Urteil f?llen zu k?nnen, sagte Gabussi. Wenn er dagewesen w?re, habe er meist schwermütig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und gescherzt.
?Er war also nicht immer da?? sagte Dr. Zeunemann.
?Nein,? sagte Gabussi, ?er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang, die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann oft wochenlang, ja monatelang aus.?
?Trank er?? fragte der Vorsitzende.
?O nicht besonders viel,? sagte Gabussi; ?er war nur sehr eigentümlich. Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu erleben, einen Drang nach Abenteuern. Für das Familienleben war er nicht geschaffen, und das war für seine Frau und seine Kinder ein Unglück. Glücklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo, der ?lteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und au?en.?
?Es waren also noch mehr Geschwister da?? schaltete der Vorsitzende ein. ?Was ist aus ihnen geworden??
?O nichts besonders Gutes,? sagte Gabussi z?gernd. ?Sie haben des Vaters unglückliche Sucht nach Abenteuern geerbt.?
?Und der ?lteste hatte nichts davon?? fragte Dr. Zeunemann.
?Im Gegenteil,? sagte Gabussi mit Feuer. ?Er war schon als Kind die Stütze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der Küche, im Hause und im Gesch?ft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erfüllt, da? er ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. 'Den holdseligsten seiner Engel hat er mir geschickt,' pflegte sie zu sagen, 'so da? ich schon auf Erden in der himmlischen Seligkeit bin.' Verursachte es ihr Kummer, da? er so angestrengt arbeiten mu?te, tr?stete sie sich dadurch, da? Gott seinem Liebling die Kraft geben werde. W?hrend er nachts seine Schularbeiten machte oder sp?ter den Studien oblag, sa? sie neben ihm und n?hte oder flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort war.?
?Mi?handelte er Frau und Kinder?? fragte der Vorsitzende.
?Darüber kann ich nicht viel sagen,? antwortete Gabussi, indem er wieder einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, ?denn weder Dodo noch seine Mutter ?u?erten sich darüber. Nach ihrem Tode gab es allerdings zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn stets etwas in Schranken gehalten.?
?Gesch?ft und Haushalt kamen vermutlich herunter?? fragte der Vorsitzende.
?Mein Freund tat, was m?glich war,? erz?hlte Gabussi. ?Er war Vater und Mutter für seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein zarter Jüngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte, Waren auf seinem Karren in die H?user. Der Vater wurde allerdings mehr und mehr unzurechnungsf?hig. Namentlich reizte er selbst die jüngeren Kinder zu Unarten und b?sen Streichen. Er würde unerme?liches Unheil angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gefürchtet h?tte.?
?War er hinf?llig und gebrechlich geworden?? fragte der Vorsitzende.
?Durchaus nicht,? sagte Gabussi lebhaft, ?er war ein gro?er, muskul?ser Mann, viel st?rker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos Kr?fte zu verhundertfachen. Seine arme Mutter würde gesagt haben, da? Gott ihn mit seinem Atem erfüllte, um seinen Liebling zu schützen. Ich habe seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der wei?, da? er Prügel verdient.?
Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen H?he auf. ?Meine Herren,? sagte er, ?ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt denken: Da sehen wir wieder das unbez?hmbare, gef?hrliche Temperament dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der sich nicht an seiner Frau vergreifen - und so weiter. Ich, meine Herren, habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, B?ses zu verhüten oder zu bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungew?hnlich reizbaren Menschen, aber was ihn reizt, ist das Schlechte, H??liche, Unharmonische. Da? er sich aus selbstsüchtigen Gründen an jemandem vergriffen oder jemandem unrecht getan habe, dafür liegt bis jetzt kein Beispiel vor.?
?Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,? entgegnete der Staatsanwalt, ?besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder, richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das reifere und h?here Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verh?ngnisvollen Anlagen mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn bedeutete. Etwas ?hnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der Trennung von seiner durchaus anst?ndigen, guten Frau beginnt sein Fall.?
?Sein Fall!? sagte der Justizrat gelassen, ?da mu? ich protestieren, oder den Ausdruck dahin pr?zisieren, da? es sich um ein Abweichen von der herk?mmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei Deruga eine gewisse Vernachl?ssigung der ?u?eren Stellung, ?u?erer Würden, ?u?erer Ehren eingetreten. Damit braucht aber der Verfall des sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine gr??ere Verinnerlichung damit zusammenh?ngen. Als Staatsangeh?riger bin ich allerdings für die bürgerliche Ordnung. Wir dürfen aber doch nicht vergessen, da? auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von Kr?ften lebt, die ihm von au?en, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos, zustr?men.?
Ein ironisches L?cheln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. ?Das ist Philosophie,? sagte er, ?und mit Philosophie l??t man sich auch die Notwendigkeit von Massenm?rdern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen haben es ganz schlechtweg und einf?ltig mit strafbaren Handlungen zu tun. Christus durfte sich erlauben, die Z?llner und Sünder zu lieben, wir müssen uns bescheiden, sie zu strafen.?
Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von einer Tafel l?scht. ?Das führt zu weit,? sagte er, und dann zum Zeugen gewendet: ?Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt??
?Ich? Niemals, niemals!? sagte Gabussi lebhaft, ?und doch ist gewi? nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das mir die Natur nun einmal gegeben hat, mu? eine feurige Natur, wie mein Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen h?tte ihn oft ungeduldig machen k?nnen. Anstatt dessen war er stets opferwillig und hilfsbereit.?
?Ein Engel,? setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu.
?Hatte der Angeklagte noch viele Freunde au?er Ihnen?? fragte Dr. Zeunemann.
?Er stand mit fast allen gut,? sagte Gabussi, ?aber befreundet war er nur mit mir. Ich bin überzeugt, da? kein einziger sein Inneres so gut kannte wie ich.?
?Das ist eigentlich sonderbar,? meinte der Vorsitzende, ?bei einem Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst hervorheben.?
?Ja, so m?chte man denken,? sagte Gabussi, ?und wenn man ihn unter seinen Schulgef?hrten und sp?ter unter seinen Studiengenossen sah, so mu?te man meinen, er sei mit allen verbrüdert. Ich erinnere mich, da? ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner Schwerf?lligkeit k?nne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer Familie umringt war. Aber diese Umg?nglichkeit, die er an sich hatte, und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele hüllte, um sie unzug?nglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er, der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zurückhaltende Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gespr?chigkeit und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.?
In dem Ma?e, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Pr?sidenten seines Freundes Eigenart zu erkl?ren, wuchs das verst?ndnisvolle Interesse des Vorsitzenden. ?Ich begreife Sie, ich begreife Sie,? sagte er, ?das kommt bei leidenschaftlichen, überm??ig reizbaren Naturen vor. Sie müssen immer auf der Hut sein, da? sie nicht zu viel von sich verausgaben, und schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.?
?Ja, ja, so ist es,? best?tigte Gabussi. ?Er war im Grunde weich und leicht verletzlich, sch?mte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel gleichgültiger und h?rter waren, und verhüllte sich auf seine Art. Er war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen hervorbringt, er konnte nur bunte F?den spinnen und mit solchem Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der allzunahen Berührung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen schmerzhaften Zusammenst??en mit der Au?enwelt, die sein Herz bluten machten. Ach, was für eine Tragik, da? er so oft beschuldigt wurde, anderen Leid zugefügt zu haben, der immerfort durch andere litt!?
?Sehr interessant,? sagte Dr. Zeunemann. ?Aber worunter litt er denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Dafür hatte er doch aber eine gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer Familie.?
?Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,? erkl?rte Gabussi, ?und durch sie litt er gewi? nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie sah. Seine Seele fühlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Sch?nheitssinn, und alles Geschmacklose, sowohl an den Gegenst?nden wie an den Menschen, stie? ihn ab. Da er in ?rmlichen oder wenigstens sehr beschr?nkten Verh?ltnissen geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, da? er gegen alles Kleinliche und H??liche, und was sie mitbringen, so überaus empfindlich war. Ich selbst habe das erst allm?hlich verstehen lernen, anfangs klangen mir seine darauf bezüglichen Klagen wie Dichtungen in arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand unseres Gespr?chs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel Reichtum als das Allererstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vorüber. Denn von den Bedürfnissen, die ihn Reichtum ersehnen lie?en, hatte ich keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder Umgebung zurecht, sie ist gewisserma?en ein Naturlaut, und wenn man sie nur nicht in einen gl?nzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund brauchte Sch?nheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen, daher oft einander widerstrebenden T?ne aufl?sten.?
?Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,? sagte Dr. Zeunemann.
?Allerdings,? gab Gabussi zu, ?aber über freundschaftliche Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir lie?en uns beide gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel leichter zufriedenzustellen bin.?
?Es wundert mich,? fuhr Dr. Zeunemann gemütlich fort, ?da? Ihr Freund bei seinem leichtverletzlichen Sch?nheitssinn das Studium der Medizin ergriff, bei dem es so viel Absto?endes zu überwinden gibt.?
?O,? sagte Gabussi, ?da kam ihm wieder seine Hilfsbereitschaft und Liebe für alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine geradezu geniale Begabung für seinen Beruf. Dazu kam, da? er auf diesem Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner Familie wünschenswert war, wie er es auch aus den erw?hnten Rücksichten für sich erstrebte.?
?Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,? fragte der Vorsitzende, ?da? es ihm damit doch nicht geglückt ist??
?Jedenfalls nicht daran,? sagte Gabussi, ?da? er untüchtig gewesen w?re. Aber ich sagte schon, da? seine Seele reich und vielstimmig war. Er sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei H?nde voll weg für eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink und gut; aber er tr?umte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden, Reichtum auf edle Art zu genie?en, mit keiner von denen, die Reichtum machen. Beim Reichwerden kommt es ebensosehr wie auf die F?higkeit des Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war jener tragische Zwiespalt in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch auszugleichen ist, da? man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der ?rmste kann Sch?nheit im überflu? genie?en, wenn er sich in die Natur zurückzieht. Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, da? er das nicht von Anfang an getan hat. In der gro?en Welt konnten die Konflikte seiner Seele keine L?sung finden.?
?Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,? sagte Dr. Zeunemann freundlich. ?Nicht minder brauchbar, weil von Freundeshand entworfen.? Dann schlo? er das Verh?r ab, nachdem er noch einige belanglose Fragen gestellt hatte.
* * *
Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verlie?, war die Zeit des Feierabends. Die Stra?en füllten sich mit Menschen, aber in den Anlagen hinter dem Gerichtsgeb?ude war es still wie immer. Mit dem Lichte schienen die Gegenst?nde ihr buntes Kleid abgeworfen zu haben und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erkl?rte sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde da, ohne zu wissen wie, von einer Str?mung ergriffen, die einen von der eingeschlagenen Richtung abbr?chte.
?Was du sagtest, war alles sch?n und gut,? tr?stete Deruga. ?Es kam mir nur überflüssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mail?nder Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu rümpft und nach seinen Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? Für mich war es sch?n, mit dir von der Vergangenheit zu tr?umen.?
?Ja,? sagte der Justizrat, ?das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare sagt, zu desto sü?erem Geschw?tz.?
?W?hrend umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im Unglück vergangenen Glückes zu erinnern,? fügte Gabussi hinzu.
Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneegl?ckchen die gelbliche Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen.
?Da ist eins von den kleinen Gesch?pfen,? sagte er, ?es guckt wie eine Maus aus ihrem Loch hervor.?
?Sehen Sie,? triumphierte der Justizrat. ?Sie lachten mich damals aus, als ich ihm die trockenen Bl?tter vom Kopf wegstocherte.?
?Sie hatten auch unrecht,? entgegnete Deruga, ?denn nun holt es wahrscheinlich die Katze.?
?Meinen Sie den Nachtfrost?? fragte der Justizrat. ?Diese frühen Pflanzen k?nnen viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. H?ren Sie, mein Lieber,? setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen suchte, ?Sie werden sentimental, das gef?llt mir nicht.?
Deruga rührte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er führte sie an, als er sich darauf besonnen hatte:
?La doglia mia cresoe coll' ombra.?
?Das klingt wie ein Ton von einer Amati,? sagte der Justizrat, die Musik des Verses mit sichtlichem Genusse schlürfend. ?Was hei?t das??
?Mein Weh w?chst mit den Schatten,? übersetzte Deruga. ?Das will also sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet nicht mehr als eine Abendstimmung.? Er schüttelte sich, als werfe er die trübe Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgange zu.
?Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,? sagte Gabussi, ?werden dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der gro?en Stadt, den der reine Himmel der H?hen verzehrt.?
?Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen würde, wie du meinst?? sagte Deruga. ?Ich bin nun einmal kein Bauer.?
?Du wirst einer werden,? rief Gabussi lebhaft aus. ?Wenn du erst gelernt hast, dich für nichts als unsere paar Kühe und Ziegen zu interessieren, dann wirst du gesund sein.? Er forderte den Justizrat zur Best?tigung seiner Meinung auf.
?Ein bi?chen zu verbauern, t?te Ihnen gewi? gut,? sagte dieser vorsichtig.
?Sie meinen,? sagte Deruga, ?wenn man den verzwickten Kerl in seine Bestandteile aufl?sen und einen ganz neuen daraus machen k?nnte, dann w?re ihm allenfalls geholfen.?
Der Justizrat lachte.
?Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,? meinte er, ?das w?re doch schade.?
Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga k?nne ihn auf seinen G?ngen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. übrigens würden seine Frauen genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er au?erdem noch eine Besch?ftigung haben müsse, so k?nne er ja diese oder jene medizinische Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Besch?ftigung gebe es Gelegenheit. Die Leute dort oben w?ren um mehr als hundert Jahre zurück, h?tten Werkzeuge aus der Urwelt. Da w?re ein Feld für seine Erfindungsgabe und Geschicklichkeit.
?Ach,? sagte Deruga, ?wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, da? ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder mich umbringen würde??
?Langweilen?? wiederholte Gabussi erstaunt, seine gro?en Augen noch weiter ?ffnend. ?Langweilst du dich denn in der Stadt??
?Nein, hier geht es an,? sagte Deruga, ?dies Gewimmel von Würmern auf der F?ulnis unterh?lt mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es. Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken wie nasse Kn?del auf meinen Magen.?
?Ich verstehe dich nicht,? sagte Gabussi, sich ereifernd, ?das kann dein Ernst nicht sein. Einem guten Menschen mu? das Gro?e und Einfache wohl tun.?
?Ach, Gabussi,? erwiderte Deruga ungeduldig, ?der Mensch ist kein Dreieck, worauf man den Pythagor?ischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube mir, da? ich schlie?lich deine gute, alte Schwester verführen würde, nur um die klare Atmosph?re ein bi?chen zu trüben!?
?Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden h?rte!? klagte Gabussi. ?Es sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerrei?en mir das Herz.?
Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne da? die Freunde zu einem Verst?ndnis gekommen w?ren. Gabussi bestand darauf, in München zu bleiben, bis der Proze? beendigt w?re, und dann, falls er nach Wunsch erledigt w?re, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser eine stets wachsende Abneigung ausdrückte. Vielmehr redete er Gabussi zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester und von seinen Kranken ungeduldig erwartet würde, hier aber jetzt nichts nützen k?nne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und entt?uscht.
Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit und mit Tr?nen in den Augen. ?Vergi? das verzweifelte Zeug, das ich geredet habe,? sagte er, ?und glaube nur das eine, da? mein Herz immer dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so würde ich dich zu mir nehmen und dich eigenh?ndig füttern, solange du lebtest. Dasselbe la? mich von dir glauben! Was für ein Strudel von Dreck w?re das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen g?be!?
?Gott sei Dank,? sagte Gabussi, dessen gro?e braune Augen gl?nzten, ?ich glaube, ich h?tte dem Himmel über meinem Kopfe mi?traut, wenn ich den Glauben an dich verlieren mü?te!?
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