Auf der von unsicheren Frühlingssonnenstrahlen durchflackerten, breiten Stra?e, die auf die Front des Justizgeb?udes führte, stie? Dr. von Wydenbruck auf den Oberlandesgerichtsrat Zeunemann, stellte sich vor und sprach seine Bewunderung über die Art aus, wie der Oberlandesgerichtsrat die Verhandlung führte. Er sei für den Einblick in eine komplizierte Psyche, der ihm da gew?hrt würde, sehr erkenntlich, und er sei überzeugt, Dr. Zeunemann werde noch immer mehr in ihre Tiefen und Untiefen hineinleuchten.
?Ich pflege meine Fragen so zu stellen,? sagte der Oberlandesgerichtsrat, ?da? alles auf den Fall Bezügliche an ?u?eren und inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und Schrauben, wissen Sie, sondern unwillkürlich, wie sich ein Blatt entrollt.?
?Ja, ich habe das bemerkt,? sagte Dr. von Wydenbruck entzückt, ?es ist wundervoll. Sie schaffen gewisserma?en nur die geeignete Atmosph?re, und das Spiel des Lebens entfaltet sich. Bisher haben Sie die Bestrahlung des Tages vorwalten lassen, vielleicht lassen Sie es auch einmal Nacht werden, lassen die Schatten aus dem Hades der Seele aufsteigen.?
?Sie sind Psycholog und wollen Ihre Studien machen?? sagte Dr. Zeunemann.
?Von Ihrer reichbesetzten Tafel f?llt vieles ab,? erwiderte Dr. von Wydenbruck verbindlich.
Sie blieben auf der breiten Freitreppe stehen, um das Gespr?ch zu beenden, w?hrend es drei Uhr schlug. ?Ich kann dazu nicht so viel tun, wie Sie glauben,? erkl?rte der Oberlandesgerichtsrat. ?Ohne Seelenkunde kann allerdings heutzutage kein Kriminalist auskommen, aber ich sage mit Absicht 'Seelenkunde', um auszudrücken, da? es sich nach meiner Meinung um keine eigentliche Wissenschaft handelt, sondern um ein angeborenes Gefühl, man k?nnte es Genialit?t nennen. Ich lasse mich weit mehr von meinem Gefühl als von Berechnung leiten; Sie werden sich wundern, eine solche Ansicht von einem Juristen zu h?ren.?
W?hrend Herr Dr. von Wydenbruck Verwunderung und Bewunderung ausdrückte, hatte sich der Schwurgerichtssaal gefüllt, und einer von den Geschworenen, Geflügelzüchter K?cherle, fragte den Obmann der Geschworenen, Kommerzienrat Winkler, neben dem er sa?, wer die feine Dame mit der langgestielten, goldenen Lorgnette in der ersten Reihe des Zuschauerraums sei.
?Das ist doch die Baronin Truschkowitz, die die ganze Geschichte in Gang gebracht hat,? sagte der Kommerzienrat. ?Kennen Sie denn die nicht??
?So sieht die aus?? rief der andere erstaunt aus. ?Die h?tte ich mir sehr sch?big und unterern?hrt vorgestellt, weil sie von der dürftigen Lage ihrer Kinder redet, und wie sie sich durchs Leben k?mpfen mü?ten.?
?Der Adel,? sagte der Kommerzienrat, die Achsel zuckend, ?hat eben andere Begriffe von dem, was man braucht und beanspruchen darf. übrigens, wenn einer, der viel hat, noch mehr haben kann, sagt er nie Nein.?
Der Geflügelh?ndler gab das zu, aber er fand es doch geschmacklos, sich so kostbar zu tragen, wenn man so redete, als wimmerten seine Kinder nach dem t?glichen Brot.
?Ihre Toilette ist aber geschmackvoll,? bemerkte ein anderer.
?Und teuer,? setzte der Kommerzienrat hinzu, indem er einen sch?tzenden Blick über die Dame gleiten lie?.
?Der Reiherbusch auf dem Hut etwa hundert Mark, die Brillanten im Stiel der Lorgnette vielleicht tausend Mark.?
?Sind es echte Brillanten?? fragte der Geflügelzüchter mit gro?en Augen.
?Ja, das Feuer haben nachgeahmte Steine nicht,? sagte der Kommerzienrat beinahe hitzig. ?Wenn man auch dahin kommt, Brillanten künstlich herzustellen, so stimmt es meinetwegen nach der chemischen Formel, aber das Feuer der natürlichen Steine ist anders. Das lasse ich mir nicht abstreiten. Die Natur ist eben doch unerreichbar.?
?Sind das denn auch Brillanten, die sie auf dem Hut hat?? fragte der Geflügelzüchter.
?Bewahre,? antwortete der Kommerzienrat mi?billigend, ?dazu wei? eine solche Dame zu gut Bescheid in Geschmacksfragen. Das ist eine moderne Phantasieagraffe, die etwa fünfzig Mark gekostet hat. Aber Sie sind ja das reine Kind in solchen Sachen!?
?Stimmt,? gab der Geflügelzüchter zu, ?wenn meine Frau nicht ein bi?chen nach mir schaute, w?re ich von einem Bauernknecht nicht zu unterscheiden. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, was man so eine elegante Frau von Welt nennt und eine sogenannte Demimonde-Dame, kenne ich nicht auseinander.?
?Was Sie sagen,? rief der Kommerzienrat. ?Aber das gibt es ja gar nicht! Da mu? man sich doch auskennen.?
?Was ist denn zum Beispiel die Truschkowitz für ein Typus?? fragte der Geflügelzüchter. ?Steht das nicht ungef?hr auf der Grenze??
?Ich bitte Sie,? sagte der Kommerzienrat, vor Schreck und ?rger err?tend, ?das ist eine ganz feine Frau von Welt! Der Anzug ist der gute Ton und die Diskretion selbst.?
?Na, wissen Sie,? wandte der andere ein, ?eine gescheite Demimonde-Dame sollte das doch nachmachen k?nnen. So etwas lernt sich doch bald.?
?Nein,? beharrte der Kommerzienrat, noch immer rot und erregt. ?Ein gewisses Etwas lernt sich eben nicht. Es l??t sich nicht lernen, weil es sich nur fühlen l??t. Da gibt ein Atom den Ausschlag.?
Der eintretende Gerichtshof unterbrach das Zwiegespr?ch, Frau Hauptmann Schmid wurde wieder vorgeführt, und nachdem der Vorsitzende sie nochmals ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und nichts zurückzuhalten, fa?te er das Ergebnis ihrer bisherigen Aussage zusammen:
?Bald nach seiner Verheiratung mit seiner um einige Jahre ?lteren Frau bezog der Angeklagte eine Sommerwohnung bei Ihren Gro?eltern in Laibach. Die Derugas machten den Eindruck eines glücklichen Paares, dessen Glück immerhin getrübt wurde durch gewisse Eigenheiten des Mannes, namentlich seine an J?hzorn streifende Heftigkeit und seine Neigung zur Eifersucht. Soweit Sie wissen, war eine Eifersucht unbegründet. Nicht wahr, ich habe Sie recht verstanden.?
?Darüber kann ich doch unm?glich etwas wissen,? sagte Frau Schmid. ?Denn es handelte sich ja um Vergangenes. Da? die arme Marmotte einen anderen gern gehabt hat, kann ja leicht sein, sie war ja gewi? schon drei?ig Jahre alt, und ich glaube es sogar; denn der Doktor w?re doch n?rrisch gewesen, wenn er die Geschichte erfunden h?tte, um sie und sich damit zu plagen.?
?Sie sagten doch aber heute morgen einmal,? hielt ihr Dr. Zeunemann vor, ?Sie hielten es für ausgeschlossen, da? Frau Dr. Deruga sich jemals h?tte etwas zuschulden kommen lassen.?
?Zuschulden kommen lassen,? wiederholte Frau Schmid, ?davon ist doch keine Rede. Mein Gott, man wird doch einmal einen gern haben dürfen, ohne da? einem gleich daraus der Strick gedreht wird. Ich habe doch auch unser Doktorchen gern gehabt - nun, das Gefühl ist im Keime steckengeblieben -, aber wenn es auch einmal einen Ku? gegeben h?tte, was w?re dabei? Den Allzuzimperlichen traue ich am wenigsten.?
?Sie haben aber keinen Anhaltspunkt dafür,? sagte Dr. Zeunemann, ?da? die damalige Frau Deruga etwaige frühere Beziehungen derzeit noch fortgesetzt h?tte??
?Bewahre!? rief Frau Hauptmann Schmid fast schreiend, ?was meinen Sie denn, dann w?re sie ja eine ganz infame Kr?te gewesen! Da brauchen Sie nur Herrn Doktor selbst zu fragen, der wird es Ihnen schon sagen. Ich glaube, er spr?nge Ihnen gleich an die Kehle, wenn Sie ihn so etwas fragten!?
Dr. Zeunemann konnte nicht umhin zu l?cheln. ?Darum halte ich mich lieber an Sie,? sagte er. ?Sie halten also für m?glich, da? Frau Deruga vor ihrer Verheiratung einmal eine Neigung hatte, sind aber überzeugt, da? derzeit jede etwaige Beziehung gel?st war. In Anbetracht des Umstandes, da? der Angeklagte sich als Arzt zuerst in Linz niederlie?, gab er im Dezember die Sommerwohnung bei Ihren Gro?eltern auf. Haben Sie sp?ter noch im Verkehr mit ihm und seiner Frau gestanden??
?Sie schickten eine Anzeige von der Geburt des kleinen M?dchens,? sagte Frau Schmid, ?das nachher starb. Die Anzeige lie? ich mir von der Gro?mutter schenken und habe sie noch. Ich hatte immer das Gefühl, da? es besondere Menschen w?ren, und wartete lange darauf, da? sich etwas Besonderes mit ihnen begeben würde. Da? es so k?me, dachte ich freilich nicht.?
Nachdem noch einige Fragen über die Besuche, die Derugas empfingen, und über ihren Geldverbrauch gestellt waren, wurde Frau Hauptmann Schmid entlassen, und ein eleganter Herr von etwa sechsunddrei?ig Jahren folgte ihr. Er sah so überaus tadellos aus, da? er an eine Figur aus dem Modeblatt erinnerte, und auch sein Gesicht hatte einen dementsprechenden regelm??igen Zuschnitt; nur war es nicht glatt und rosig, sondern bla?grau, müde und etwas eingefallen.
Er machte eine Verbeugung, durch welche er dem Gerichtshof den Respekt zuteilte, den er jeder staatlichen Einrichtung, wie weit er pers?nlich auch darüber stehen mochte, zugestand, und lie? unter anderen Personalien feststellen, da? er Peter Hase hei?e und in München wohnhaft sei. Dann wurde er aufgefordert mitzuteilen, wie er die Bekanntschaft des Angeklagten gemacht habe.
?Wir wurden einander im Kavalier-Café, wo er verkehrte, vorgestellt. Es ist kein Café ersten Ranges, aber ein sehr behagliches Lokal und ziemlich viel von Künstlern besucht, weil es eigentlich für Nichtkünstler gegründet wurde. Deruga ist dort sehr bekannt, und ich hatte ?fters von ihm als von einer eigentümlichen Pers?nlichkeit und einem guten Gesellschafter sprechen h?ren, so da? ich mich freute, ihn kennenzulernen. Er hatte einen bestimmten Platz an einem bestimmten Tisch, wo sich ein ziemlich gemischter Kreis um ihn zu versammeln pflegte.?
?Waren Herren aus der Gesellschaft darunter?? fragte der Vorsitzende.
?Sowohl solche wie andere,? antwortete Peter Hase, ?haupts?chlich aus der Bohème.? Er sprach das Wort so unbetont aus, da? es unm?glich gewesen w?re, herauszufühlen, ob er Verachtung oder Sympathie oder sonst was für den Begriff empfand. überhaupt hatte er etwas vollkommen Beziehungsloses; er schien keine Umwelt als leere, wei?e Mauern zu haben.
?Traten Sie in ein intimeres Verh?ltnis zu Deruga?? sagte Dr. Zeunemann.
?Das nicht,? sagte Herr Hase, ohne die Zumutung, er k?nne zu irgend jemandem in intimere Verh?ltnisse treten, im allermindesten zu rügen, ?aber er interessierte mich immer, wenn ich ihn sah.?
?Darf ich Sie bitten,? sagte der Vorsitzende, ?jetzt den Auftritt zu schildern, der zwischen Ihnen und Deruga in dem erw?hnten Café stattfand??
Herr Hase verbeugte sich zustimmend. ?Erlauben Sie mir die Richtigstellung,? begann er, ?da? von einem Auftritt zwischen Dr. Deruga und mir insofern nicht die Rede sein kann, als ich mich in keiner Weise aktiv dabei beteiligt habe. Es hatte damals ein Grubenunglück stattgefunden, bei welchem eine Anzahl Arbeiter verunglückt waren, und es wurde für die Hinterbliebenen gesammelt. An jenem Nachmittag kam eine Dame mit einer Liste für Unterschriften und Beitr?ge in das Café.?
?Eine Dame?? fragte der Vorsitzende.
?Eine Frau, wenn Sie lieber wollen,? sagte Herr Hase, ?sie war sehr dürftig gekleidet. Sie n?herte sich unserem Tisch, und da ich zun?chst sa?, gab ich ihr durch eine Handbewegung oder ein Kopfschütteln zu verstehen, sie solle sich nicht bemühen; denn ich finde Sammlungen jeder Art in Vergnügungslokalen unpassend. Dr. Deruga, der im Besitz einer au?erordentlichen Beobachtungsgabe ist, hatte den kleinen Vorgang bemerkt und rief die Dame oder Frau, die im Begriffe war weiterzugehen, zurück. 'Warum kommen Sie nicht zu uns, liebes Kind?' sagte er. 'Kommen Sie, wir m?chten auch etwas zeichnen.' Dann überh?ufte er mich mit Vorwürfen, da? ich die Dame eigenm?chtig, ohne die Absicht der Gesellschaft zu kennen, verscheucht h?tte. Um der Sache ein Ende zu machen, griff ich schnell nach der Liste, zeichnete einen Betrag und gab sie weiter. Als sie an Deruga kam, überlas er die Eintr?ge und ?rgerte sich, wie ich sofort an seinem Gesicht sehen konnte, über ihre Geringfügigkeit. 'Sehen Sie, liebes Kind,' sagte er zu der Dame, 'diese Herren hier sind reich und haben infolgedessen, da sie sich H?user bauen, Autos halten und Sekt trinken müssen, kein Geld für Arbeiterfrauen und Arbeiterkinder übrig, deren es ohnehin zu viele gibt. Ich dagegen bin arm, sollte mich eigentlich aufh?ngen und brauche infolgedessen nur einen Strick, der wenig kostet; daher bin ich in der Lage, dreihundert Mark zu zeichnen, die ich Sie in meiner hier angegebenen Wohnung abzuholen bitte. übrigens k?nnen Sie einstweilen als Pfand diese Nadel hier mitnehmen.' Er zog dabei eine eigentümliche, augenscheinlich sehr wertvolle Nadel aus seiner Krawatte und h?ndigte sie der Dame ein, die, ohnehin durch sein Benehmen in Verlegenheit gesetzt, sich weigerte, sie anzunehmen, aber endlich nachgeben mu?te. Ein paar von den Herren, die Dr. Deruga besser kannten als ich, sagten zu ihm, wenn jeder etwa fünf Mark zeichnete, k?me genug zusammen; es sei doch nicht die Absicht, die hinterbliebenen Arbeiterfrauen reicher zu machen, als man selbst sei. Er solle Vernunft annehmen und eine seinen Verh?ltnissen angemessene Summe geben. Dadurch reizten sie Dr. Deruga noch mehr, er wurde wütend und sprudelte im Zorne allerlei ?u?erungen hervor, die ich natürlich nur ganz ungef?hr wiedergeben k?nnte.?
Der Vorsitzende bat dies zu tun, soweit es sein Ged?chtnis erlaubte.
Herr Hase verbeugte sich zustimmend. ?Er sagte also ungef?hr so: 'Meine Verh?ltnisse? Was wissen Sie von meinen Verh?ltnissen? In Ihren Augen bin ich ein armer Teufel, und Sie glauben deshalb sich über mich zu amüsieren und mich bevormunden zu k?nnen. Sie sehen eine Art Hofnarren in mir, der dazu da ist, Sie zu unterhalten, übrigens aber keine Ansprüche zu stellen hat. Ich k?nnte ebenso wie Sie eine reiche Frau heiraten und w?re dann in denselben Verh?ltnissen wie Sie. übrigens habe ich das nicht einmal n?tig, denn ich kann jederzeit über das Verm?gen meiner geschiedenen Frau verfügen. Nach ihrem Tode werde ich ein reicher Mann und wahrscheinlich ebenso geizig und habgierig wie Sie jetzt; also nehmen Sie mein Geld, solange ich noch arm bin, liebes Kind!' Ich bitte übrigens nochmals zu bedenken,? setzte Herr Hase hinzu, ?da? ich erz?hle, was die Erinnerung mir aufbewahrt hat oder mir vorspiegelt. Das beste wird sein, wenn Sie Dr. Deruga selbst befragen, ob er die von mir wiedergegebenen Worte als die seinigen anerkennt.?
Der Vorsitzende hatte kaum den Kopf nach Deruga gewendet, als dieser vergnügt ausrief: ?Vorzüglich war die ganze Schilderung und eines so ausgezeichneten Schriftstellers würdig. Ich mache einen viel besseren Eindruck darin, als ich für m?glich gehalten h?tte. Wahrscheinlich habe ich alles das gesagt, nur hat Herr Hase, anst?ndig wie er ist, alle die Beschimpfungen weggelassen, die ich ihm pers?nlich an den Kopf geworfen habe, über seine Herzlosigkeit, Verlogenheit, Nichtigkeit und so weiter.?
?Ich habe weggelassen, was nicht unbedingt zur Sache geh?rt,? sagte Herr Hase gegen den Pr?sidenten gewendet, ?allerdings h?tte ich seine Ausf?lle gegen mich vielleicht nicht ganz unterdrücken sollen, weil daraus deutlich wird, wie sehr er im Augenblick der Erregung unter der Herrschaft seines Temperaments steht, und man nur sehr bedingterweise Schlüsse aus den ?u?erungen ziehen darf, die er in solchen Augenblicken tut.?
?Ich bitte um die Erlaubnis,? sagte Justizrat Fein, aufstehend, ?dieser sehr richtigen Bemerkung des Zeugen eine ?hnliche hinzuzufügen. Das Ergebnis der eben vernommenen Aussage ist haupts?chlich, da? man Deruga überhaupt nicht zu ernst nehmen darf. Man mu? in Italien gewesen sein und die Italiener kennen, um ihn richtig zu beurteilen. Seine Reden erinnern zuweilen an das Pathos, mit dem ein italienischer Quacksalber auf dem Markte seine Hühneraugenpflaster anpreist: 'Meine Damen und Herren, und wenn Ihr leiblicher Bruder hier stünde, er k?nnte Sie nicht ehrlicher bedienen, als ich es tue. Nicht um meinetwillen, um Ihretwillen stehe ich hier, denn was bedeuten die paar Pfennige, die Sie mir geben, gegen das, was ich Ihnen verschaffe, ein schmerzloses Dasein, einen sieghaften Gang, die Gunst der Frauen, die Bewunderung der M?nner!'?
W?hrend im Publikum gelacht wurde, legte Dr. Zeunemann seine Stirn in leichte Falten und sagte: ?Man darf immerhin nicht vergessen, da? die Italiener als schlaue Leute von ihren nationalen Eigentümlichkeiten sehr guten Gebrauch zu machen wissen, und da?, wer h?ufig Masken tr?gt, deshalb doch ein Gesicht hat, wenn auch mitunter schwer zu entscheiden sein mag, welches das echte ist. Ich will aber jetzt nicht Philosophie treiben, sondern Tatsachen feststellen, und da m?chte ich darauf hinweisen, da? uns von dem Angeklagten noch ?hnliche Aussprüche bekannt geworden sind, die er in vollst?ndigem seelischem Gleichgewicht machte. Ferner m?chte ich wissen, ob der Angeklagte damals die gezeichnete Summe gezahlt hat??
Herr Hase bedauerte, darüber keine Auskunft geben zu k?nnen. Auf der vordersten Reihe der Geschworenensitze erhob sich Kommerzienrat Winkler und sagte: ?Die gewünschte Auskunft gibt uns vielleicht die Nadel in der Krawatte des Angeklagten. Es dürfte die verpf?ndete sein, die er also augenscheinlich ausgel?st hat!?
Deruga best?tigte, da? es die Nadel sei, die er gegen Bezahlung der genannten Summe zurückerhalten habe, zog sie heraus und bot sie zur Besichtigung an.
?Haben Sie denn wirklich die dreihundert Mark gegeben?? fragte der Justizrat Fein. ?Wie hatten Sie denn gleich soviel Geld übrig?? Deruga zuckte etwas ungeduldig die Schultern. ?Glauben Sie denn,? sagte er, ?ich h?tte mir nicht jeden Augenblick dreihundert Mark verschaffen k?nnen? Ich brauchte mir zum Beispiel nur einen Vorschu? vom italienischen Konsulat geben zu lassen für übersetzungen, Untersuchungen oder dergleichen. Deruga hat Gehirn im Sch?del und keine Kartoffeln.?
Inzwischen hatte der Vorsitzende die Nadel betrachtet und fragte Herrn Hase, ob es dieselbe sei, die der Angeklagte an jenem Abend als Pfand gegeben habe, was Peter Hase, nachdem er einen diskreten Blick darauf geworfen hatte, bejahte.
?Es ist ein auffallend sch?nes Stück,? sagte Dr. Zeunemann, in den Anblick der Nadel versunken, die einen Mohrenkopf mit Turban darstellte; der Kopf bestand aus einer schwarzen, der Turban aus einer wei?en Perle, und der letztere war reich mit Rubinen und Smaragden besetzt.
?Ein Geschenk meiner verstorbenen Frau,? sagte Deruga, indem er die Nadel wieder in Empfang nahm. ?Sie meinte, sie sei wie gemacht für einen Othello wie mich.?
Nach diesem Zwischenfall fragte der Vorsitzende den Zeugen, ob er noch irgend etwas hinzuzufügen habe. über Herrn Hases unbewegliches Gesicht ging zum ersten Male ein schwaches Err?ten; seine Aufmerksamkeit war n?mlich durch die Baronin Truschkowitz abgelenkt worden, die, in der ersten Reihe der Zuschauer sitzend, sich weit vorgebeugt und die von dem Pr?sidenten gehaltene Nadel mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit betrachtet hatte. Angeredet, drehte er sich erschreckt um und sagte, da? er nichts mehr zur Sache mitzuteilen wisse, aber bereit sei, auf fernere Fragen zu antworten.
Peter Hase verlie? nach Schlu? der Sitzung das Gerichtsgeb?ude nicht, sondern wartete auf Dr. Zeunemann, stellte sich ihm vor und bat, ein paar Fragen an ihn richten zu dürfen, worauf der Oberlandesgerichtsrat ihn in sein Zimmer mitnahm. Haupts?chlich wünschte Herr Hase zu wissen, welche Strafe den Angeklagten etwa treffen k?nnte, falls er wider Erwarten verurteilt würde.
?Ja, sehen Sie, Verehrtester,? antwortete Dr. Zeunemann, w?hrend er seinen Talar mit dem Gehrock vertauschte, ?bis jetzt geht die Anklage nur auf Totschlag, und dabei würde er mit ein paar Jahren Zuchthaus davonkommen. Aber unser Staatsanwalt sieht es eigentlich als Mord an, und wenn noch irgendein dahinzielendes Indizium auftaucht, kann die Geschichte bedenklich werden. Wenn zum Beispiel festgestellt würde, da? der Mann mit dem Inhalt des Testaments bekannt war, ja, dann würde die Meinung des Staatsanwalts wahrscheinlich durchdringen, und in dem Falle würden wir auch sofort, so leid es mir tut, zur Verhaftung schreiten müssen.?
?Darf ich fragen,? erkundigte sich Herr Hase, ?wie Sie pers?nlich die Sache beurteilen??
?Ich bin zu sehr Psychologe,? sagte Dr. Zeunemann, ?um nicht einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen. Was für eine Grundfarbe dieses Cham?leon eigentlich hat, darüber bin ich, um die Wahrheit zu sagen, noch nicht ins klare gekommen.?
?Warum sollte er überhaupt eine Grundfarbe haben?? sagte Herr Hase verh?ltnism??ig lebhaft. ?Der schimmernde Wechsel ist die Natur dieses fabelhaften Gesch?pfes. Ich habe eine gro?e Sympathie für Cham?leons,? fügte er nach einer Pause hinzu.
?Ich verstehe, ich verstehe,? erwiderte Dr. Zeunemann, ?sch?n, aber schlüpfrig. Die ?sthetische Betrachtungsweise ist sehr verschieden von der moralischen und diese nicht immer identisch mit der juristischen.?
Er war im Begriff, einen breitrandigen Filzhut vom Gestell zu nehmen, als es klopfte und auf sein unwirsches Herein die Baronin Truschkowitz auf der Schwelle erschien, der der Staatsanwalt die Tür ?ffnete.
?Lieber Pr?sident,? sagte sie rasch, indem sie ihm ihre in einem wei?en, festanliegenden Lederhandschuh steckende Hand reichte, ?ich wei?, da? es im h?chsten Grade zudringlich ist, Sie in Ihrem Heiligtum und noch dazu um diese Zeit zu überfallen, aber Sie sind zu ritterlich, um mich hinauszuwerfen, und ich bin zu unedel, um Ihre H?flichkeit nicht auszunutzen.?
Dr. Zeunemann stie? einen komischen Seufzer aus. ?Machen Sie es wenigstens kurz, Frau Baronin,? sagte er.
Sie lachte ein helles, jugendliches Lachen, in dem ein girrender Ton war, der etwas Verführerisches hatte. ?Ich mache es schon kurz,? sagte sie, ?wenn nur Sie, Herr Pr?sident, es nicht in die L?nge ziehen. Es betrifft die Nadel, die Sie heute in der Hand hatten und jenem Menschen zurückgaben. Ich erkannte sie sofort wieder als ein Erbstück meiner Urgro?mutter, das hei?t, meiner und meiner verstorbenen Kusine Urgro?mutter. Es ist mir unleidlich, dies kostbare Andenken in den H?nden jenes Menschen zu wissen, und ich m?chte Sie bitten zu bewirken, da? sie mir eingeh?ndigt wird.?
?Ihnen, Frau Baronin,? sagte Dr. Zeunemann erstaunt, ?ja, geh?rt sie denn Ihnen??
?Natürlich,? sagte die Baronin, ?ich bin bekanntlich die n?chste Verwandte der Verstorbenen.?
Dr. Zeunemann war so betroffen, da? er sich unwillkürlich setzte, nicht ohne auch der Baronin durch eine Geb?rde einen Stuhl anzubieten. ?Aber die Nadel geh?rte ja gar nicht Ihrer Kusine,? sagte er, ?sie hatte für gut befunden, sie zu verschenken.?
?Leider,? sagte die Baronin, ?aber hernach hat sie sich scheiden lassen, und in solcher Lage geben sich anst?ndige Menschen ihre Geschenke zurück. Au?erdem hat er sie doch umgebracht! Da kann man ihn doch nicht ihre Nadel tragen lassen.?
Die ratlosen Blicke, die der Oberlandesgerichtsrat mit dem Staatsanwalt wechselte, brachten sie durchaus nicht aus der Fassung. ?Nun?? fragte sie mit einem energisch aufmunternden Nicken. ?Sie sehen, da? Sie es sind, der die Sache in die L?nge zieht.?
?Da Sie mir befehlen kurz zu sein,? sagte Dr. Zeunemann, der sich inzwischen gesammelt hatte, ?so sage ich Ihnen rund heraus, da? Ihr Wunsch unerfüllbar ist. Selbst wenn Dr. Deruga verurteilt würde, k?nnten wir ihm nicht nehmen, was ihm geh?rt; aber noch ist er nicht verurteilt und hat einstweilen Ihre verstorbene Frau Kusine so wenig umgebracht wie - verzeihen Sie - wie Sie und ich.?
?Herr Pr?sident,? rief die Dame mit einem vorwurfsvollen Blick ihrer graublauen Augen aus, ?verlieren denn wirklich gerade die Rechtsgelehrten allen Sinn für das natürliche und menschliche Recht??
?Ihr Recht wird Ihnen werden, Frau Baronin,? beeilte sich jetzt der Staatsanwalt zu versichern. ?Ich bin überzeugt, da?, wenn es unserer Einsicht und Arbeit nicht gelingen sollte, die Vorsehung selbst die Wahrheit ans Licht bringen wird.?
?Und die Nadel?? fragte die Baronin. ?Ich sammle solche Sachen, und das sch?nste Stück, auf das ich Erbansprüche habe, soll in den H?nden eines solchen Menschen bleiben??
?Dafür machen Sie Ihre Urgro?mutter, aber nicht uns verantwortlich,? sagte Dr. Zeunemann lachend, indem er aufstand und wieder nach seinem Hute griff.
?Sie sind ein steinharter, gepanzerter, undurchdringlicher Jurist,? schmollte die Baronin.
?Aber ein weicher, für die Reize sch?ner Damen sehr empf?nglicher Mensch,? fügte Dr. Zeunemann vers?hnlich hinzu.
Als sie alle zusammen aufbrachen, bat die Baronin, mit Peter Hase bekannt gemacht zu werden. ?Sie sind mir kein Fremder,? sagte sie liebenswürdig zu ihm, ?da ich Ihre Bücher kenne und bewundere. Es tr?stet mich über den abscheulichen Proze?, da? ich ihm eine so wertvolle Begegnung verdanke.?
Sie forderte ihn auf, sie und ihren Mann im Hotel zu besuchen, falls er noch einige Zeit hierbleibe, und als sie ihren Wagen warten sah, verabschiedete sie sich von den beiden anderen Herren, indem sie l?chelnd sagte: ?Ich bekomme die Nadel doch noch, das weissagt mir mein Gefühl.?
Die Herren gingen noch ein paar Schritte miteinander. ?Wie reizend und anziehend,? sagte Dr. Zeunemann, ?ist doch der g?nzliche Mangel an Logik und Objektivit?t an Frauen. Wenigstens für uns M?nner.?
?Und ihre Grausamkeit!? setzte Herr Hase anerkennend hinzu.
?Ich halte sie mehr für gedankenlos,? sagte Dr. Zeunemann. ?Wie alt sch?tzen Sie übrigens diese Frau? Sie hat eine erwachsene Tochter, da mu? sie doch schon zweiundvierzig Jahre alt sein.?
?Eher ?lter,? sagte Peter Hase, ?sie ist sehr gepflegt und sehr geschickt angezogen.?
?Natürlich, natürlich,? sagte Dr. Zeunemann, ?keine Arbeit, keine Sorgen, das erh?lt jung.?
Auch den Kommerzienrat Winkler besch?ftigte die Baronin Truschkowitz, und er suchte eine Gelegenheit, Dr. Bernburger ein wenig nach ihr auszufragen. ?Sie hat Charme, Schick, Grazie,? sagte er zu ihm, ?aber gef?hrlich viel Temperament.?
?Dazu bin ich ja da, um das zu kontrollieren,? sagte Dr. Bernburger.
?Ich habe beobachtet,? fuhr der Kommerzienrat fort, ?da? sie es vermeidet, Deruga anzusehen, obschon sie sonst scharf aufpa?t. Sie setzt sich so, da? er nicht in ihr Gesichtsfeld kommt. Haben früher irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen stattgefunden??
?Sie kennt ihn gar nicht,? sagte Dr. Bernburger, ?aber sie hat ihn von jeher geha?t.?
?Also blinde Voreingenommenheit?? meinte Herr Winkler.
?Nun ja,? sagte Dr. Bernburger, ?aber das macht ihn nicht besser.?
Der Kommerzienrat lachte. ?Wie verh?lt sich denn ihr Mann dazu?? fragte er.
?O, er gibt ihr den Arm und ist neben ihr,? sagte Dr. Bernburger. ?übrigens ist er ein feiner Mensch. Selbst seine Dummheit hat etwas an sich, da? man unwillkürlich den Hut vor ihr abnimmt.?
?Dumm sein, mit der Frau!? sagte der Kommerzienrat, ?na, ich gratuliere!?
?Da k?nnen Sie sich t?uschen,? entgegnete der Anwalt. ?Ob sie Respekt vor ihm oder Grunds?tze hat, wei? ich nicht. Vielleicht ist sie eine kalte Kokette.?
Der Kommerzienrat schüttelte sich. ?Das w?re nichts für mich,? sagte er. ?Ich glaube, da m?chte ich noch lieber betrogen werden.?
* * *