Chapter 8 Kapitel (Es geschieht etwas Unerwartetes)

In dem Haus auf dem Hang wurde viel vom Schreiner Andres und dem Wiseli gesprochen. Jeden Morgen ging die Frau Oberst nachsehen, wie es dem Kranken gehe, und jedesmal brachte sie wieder einen erfreulicheren Bericht nach Hause.

Das versetzte alle in die freudigste Stimmung. Otto und Miezchen machten einen Plan, wie ein gro?es Genesungsfest gefeiert werden mü?te in Schreiner Andres Stube, aber noch bevor Wiseli zum Buchenrain zurückkehrte. Das sollte eine Hauptfreude und für Andres und Wiseli eine gro?e überraschung werden.

Es mu?te aber noch ein Fest gefeiert werden vorher, denn heute war der Geburtstag des Vaters und schon am frühen Morgen hatten allerlei von Otto und Miezchen erfundene Feierlichkeiten stattgefunden. Doch der Hauptmoment des Tages war jetzt gekommen, beim Mittagessen. Ganz feierlich hatten Otto und Miezchen sich schon hingesetzt in gro?er Erwartung all der Dinge, die da kommen sollten.

Nun erschienen auch Vater und Mutter, und die frohe Mahlzeit nahm ihren Anfang. Nachdem das erste Gericht vergnüglich verzehrt worden war, erschien eine zugedeckte Schüssel. Das war das Geburtstagsgericht. Der Deckel wurde aufgehoben, und ein pr?chtiger Blumenkohl stand da, so frisch, als h?tte man ihn eben im Garten geholt.

"Das ist ja eine pr?chtige Blume", sagte der Vater, "die mu? man loben. Aber eigentlich", fuhr er etwas entt?uscht fort, "suchte ich etwas anderes unter dem Deckel, Artischocken suchte ich. Kann man die nicht auch finden irgendwo, wie Blumenkohl? Du wei?t, liebe Marie, ich schaue an gedeckten Tischen immer nur nach Artischocken aus."

Mit einemmal schrie das Miezchen: "Eben! Eben! Geradeso hat er gerufen-zweimal, furchtbar, und so hat er den Stecken aufgehoben und so." Und Miezchen fuhr ganz aufgeregt mit ihren Armen in der Luft herum. Aber urpl?tzlich schwieg sie und fuhr schnell herunter mit ihren Armen bis unter den Tisch und war ganz blutrot geworden. Und ihr gegenüber sa? Otto und warf ihr zornige Blicke zu.

"Was ist das für eine seltsame Verherrlichung meines Geburtstags?" fragte der Vater erstaunt. "über den Tisch hin schreit meine Tochter, als wollte man sie umbringen, und unter dem Tisch versetzt mir mein Sohn so entsetzliche Stiefelst??e, da? ich blaue Flecken bekomme. Ich m?chte wissen, Otto, wo du diese angenehme Unterhaltung gelernt hast."

Jetzt war die Reihe an Otto, feuerrot zu werden bis unter die Haare hinauf. Er hatte dem Miezchen unter dem Tisch einige deutliche Mahnungen geben wollen, da? es schweigen solle, hatte aber den unrechten Platz getroffen und mit seinem Stiefel das Bein des Vaters bearbeitet. Das hatte Otto nun entdeckt. Er konnte nicht mehr aufschauen.

"Nun, Miezchen", fing der Vater wieder an, "was ist denn aus deiner

R?ubergeschichte geworden? Du kamst ja gar nicht zu Ende. Also-

'Artischocke' hat der furchtbare Mann dich genannt und

den Stecken erhoben, und dann?"

"Dann, dann", stotterte Miezchen kleinlaut, denn es hatte begriffen, da? es auf einmal alles verraten hatte und da? der Otto den Zuckerhahn zurückfordern würde, "dann hat er mich doch nicht totgeschlagen."

"So, das war nett von ihm", sagte der Vater lachend. "Und dann weiter?"

"Dann weiter gar nichts mehr", wimmerte Miezchen.

"So, so, die Geschichte nimmt also ein fr?hliches Ende. Der

Stecken bleibt in der Luft, und Miezchen geht als kleine

Artischocke nach Hause. Jetzt wollen wir gleich ansto?en auf alle

wohlgeratenen Artischocken und auf Schreiner Andres' Gesundheit!"

Damit erhob der Vater sein Glas, und die Tischgesellschaft stimmte ein. Es standen aber alle ein wenig still vom Tisch auf, denn in jedem waren allerlei Gedanken aufgestiegen. Nur der Vater blieb gelassen, setzte sich zu seiner Zeitung und steckte eine Zigarre an.

Otto schlich ins andere Zimmer hinüber, drückte sich in eine Ecke und dachte darüber nach, wie es sein werde, wenn alle anderen wieder im Mondschein rodeln würden und er nie mehr dabei sein dürfte. Denn er wu?te, da? die Mutter dies von nun an verbieten würde.

Miezchen kroch ins Schlafzimmer hinein, kauerte sich neben dem Bett auf das Schemelchen nieder, nahm den roten Zuckerhahn auf den Scho? und war sehr traurig, da? es ihn zum letztenmal sehen sollte.

Die Mutter blieb eine Zeitlang nachdenklich am Fenster stehen. Ihre Gedanken mu?ten sie immer mehr und aufregender besch?ftigen, denn jetzt fing sie an im Zimmer hin und her zu gehen. Und pl?tzlich verlie? sie es und lief hierhin und dahin, suchte nach dem Miezchen. Sie fand es endlich hinter seinem Bett auf dem Schemel, in seine traurigen Betrachtungen versunken.

"Miezchen", sagte die Mutter, "jetzt erz?hl mir, wo und wann ein

Mann dir drohte und was er dir nachgerufen hat."

Miezchen erz?hlte, was es wu?te, es kann aber nicht viel mehr heraus, als es schon gesagt hatte: Nachgerufen hatte ihm der Mann das Wort, das der Papa am Tisch gesagt hatte, behauptete es. Die Mutter kehrte in das Zimmer zurück, wo der Vater sa?, ging zu ihm und sagte in erregtem Ton: "Ich mu? es dir wirklich sagen, es kommt mir immer wahrscheinlicher vor."

Der Oberst legte seine Zeitung weg und schaute erstaunt seine Frau an.

"Siehst du", fuhr sie fort, "die Szene am Tisch hat mich auf einen Gedanken gebracht, und je mehr ich ihn verfolge, je fester gestaltet er sich vor meinen Augen."

"Setz dich doch und erz?hl mir, was du meinst", sagte der Oberst, ganz neugierig geworden.

Seine Frau setzte sich neben ihn hin und fuhr fort: "Du hast Miezchens Aufregung gesehen, sie war sichtlich erschreckt worden von dem Mann, von dem sie sprach. Es war nicht Spa? gewesen. Darum ist es klar, da? er das Kind nicht 'Artischocke' genannt hat. Wird er es nicht viel eher 'Aristokratin' oder 'Aristokratenbrut' genannt haben? Du wei?t, wer uns früher diesen Titel nachrief, meinem Bruder und mir. Diesen Augenblick habe ich von Miezchen geh?rt, da? der Vorfall sich an dem Abend ereignet hatte, als Kinder im Mondschein auf der Schlittenbahn waren. Am selben Abend wurde Andres halb erschlagen gefunden. Seit Jahren war der unheimliche J?rg verschwunden. Und im ersten Augenblick, da man wieder Spuren von ihm hat, wird sein Bruder überfallen, dem kein anderer je etwas zuleide getan hat als er. Gibt dir das nicht auch zu denken?"

"Da k?nnte was dran sein", entgegnete der Oberst nachdenklich. "Da mu? ich sofort etwas unternehmen."

Er stand auf, rief nach seinem Knecht, und wenige Minuten sp?ter fuhr er im scharfen Trab zur Stadt hinunter. Von da an fuhr der Oberst jeden Tag einmal in die Stadt, um zu h?ren, ob Berichte eingegangen seien. Am vierten Tag, als er am Abend nach Hause kam und seine Frau noch an Miezchens Bett sa?, lie? er sie schnell rufen, denn er hatte ihr etwas Wichtiges zu erz?hlen.

Sie setzten sich dann zusammen, und der Oberst teilte seiner Frau mit, was er in der Stadt geh?rt hatte. Auf seine Aussagen hin hatte die Polizei heimlich nach dem J?rg gesucht, und er war ohne gro?e Mühe gefunden worden. Denn er war ganz sicher, da? kein Mensch ihn gesehen hatte, da er nur nachts in sein Dorf gekommen und gleich wieder verschwunden war.

So war er zun?chst nur zur Stadt hinuntergegangen und hatte sich in den Wirtsh?usern herumgetrieben. Als er nun festgenommen und verh?rt wurde, leugnete er zuerst alles. Als er aber h?rte, der Oberst Ritter habe schlagende Beweise gegen ihn vorzubringen, da entfiel ihm der Mut. Denn er dachte, der Herr Oberst müsse ihn gesehen haben, sonst w?re es unm?glich, da? er gerade auf ihn gekommen w?re, da er frisch aus neapolitanischen Kriegsdiensten zurückgekommen war. Da? ein einziges Wort, das er einem kleinen Kind zugerufen hatte, ihn hatte verraten k?nnen, davon hatte er keine Ahnung.

Er fing dann an, furchtbar auf den Oberst zu schimpfen, und sagte, er habe immer gedacht, diese Aristokratenbrut werde ihn noch ins Unglück bringen. Im weiteren Verh?r gestand er dann, er habe seinen Bruder aufsuchen und Geld von ihm leihen wollen. Als er ihn durch das erleuchtete Fenster erblickte, wie er eben eine gute Summe vor sich liegen hatte, da kam ihm der Gedanke, den Andres niederzuschlagen und das Geld zu nehmen. T?ten habe er ihn nicht wollen, nur ein wenig bewu?tlos machen, damit er ihn nicht kenne. Der gr??te Teil der Summe wurde noch bei ihm gefunden. Diese wurde ihm abgenommen, und der J?rg wurde ins Gef?ngnis gesteckt.

Als dieser Vorgang bekannt wurde, gab es eine ungeheure Aufregung im ganzen Dorf, denn eine solche Geschichte war noch nie vorgefallen, seit es bestand. Besonders in der Schule kam alles aus der Ordnung, so sehr interessierten sich alle Schüler für die aufregende Begebenheit. Otto war einige Tage ganz au?er Atem, da er best?ndig da- und dorthin zu laufen hatte, wo noch ein n?herer Umstand von der Sache zu h?ren war.

Am dritten Abend nach der Verbreitung der Nachricht kam er aber so aufgeregt nach Hause gestürzt, da? ihn die Mutter ermahnen mu?te, erst einen Augenblick still zu sitzen, da er vor Atemlosigkeit kein Wort hervorbrachte und doch durchaus wieder eine Neuigkeit erz?hlen wollte. Endlich konnte er sie loswerden. Man hatte den Joggi, der bis dahin eingesperrt geblieben war, herausholen wollen. Aber der arme Tropf fürchtete sich, und nun glaubte er, man hole ihn zum K?pfen ab. Er weigerte sich, die Kammer zu verlassen. Dann hatten zwei M?nner ihn mit aller Gewalt herausgeschleppt, er hatte aber so geschrien, da? alle Leute herbeiliefen. Und dann hatte er sich noch mehr gefürchtet, und auf einmal war er davongeschossen wie ein Pfeil und in die n?chste Scheune hinein in den hintersten Winkel des Stalles. Da hockte er ganz zusammengesunken mit einem furchtbar erschrockenen Gesicht, und kein Mensch konnte ihn von der Stelle bringen. Schon seit gestern hockte er so da, und der Bauer hatte gesagt, wenn er nicht bald aufstehe, wolle er ihn mit der Heugabel fortbringen.

"Das ist ja eine ganz traurige Geschichte, Kinder", sagte die Mutter, als Otto fertig erz?hlt hatte. "Der arme Joggi! Was mu? er nun leiden in seiner Angst, die ihm niemand wegnehmen kann, da er nicht versteht, was man ihm erkl?ren k?nnte. Und der arme, gutmütige Joggi ist ja ganz unschuldig. Ach, Kinder, h?ttet ihr mir doch gleich das ganze Erlebnis erz?hlt, als ihr am Abend von der Schlittenbahn kamt. Eure Heimlichtuerei hat nur Unglück gebracht. K?nnten wir doch den armen Menschen tr?sten und wieder fr?hlich machen!"

Das Miezchen war ganz weich geworden. "Ich will ihm den roten

Zuckerhahn geben", sagte es schluchzend.

Auch Otto war ein wenig zerknirscht. Er sagte zwar etwas ver?chtlich: "Ja, einen Zuckerhahn einem erwachsenen Menschen geben! Behalt du den nur für dich." Aber dann bat er die Mutter, ihm und Miezchen zu erlauben, dem Joggi etwas zu essen in den Stall zu bringen. Er hatte gar nichts gehabt, seit er dort kauerte, zwei ganze Tage lang.

Das erlaubte die Mutter gern, und es wurde sofort ein Korb geholt und Wurst und Brot und K?se hineingesteckt. Dann gingen die Kinder den Berg hinunter, zum Stall.

Mit einem ganz wei?en, erschrockenen Gesicht kauerte der Joggi hinten im Winkel und rührte sich nicht. Die Kinder kamen ein wenig n?her. Otto zeigte ihm den offenen Korb und sagte: "Komm hervor, Joggi, das ist alles für dich zum Essen."

Joggi bewegte sich nicht.

"Komm doch, Joggi", mahnte Otto weiter. "Siehst du, sonst kommt der Bauer und sticht dich mit der Heugabel hervor."

Joggi stie? einen entsetzten Ton aus und krümmte sich noch enger zusammen.

Jetzt ging Miezchen vorw?rts und kam ganz nahe an den Joggi heran, hielt den Mund an sein Ohr und flüsterte hinein: "Komm du nur mit mir, Joggi, sie dürfen dich nicht k?pfen. Der Papa hilft dir schon, und siehst du, das Christkindlein hat dir einen roten Zuckerhahn gebracht." Und Miezchen nahm ganz heimlich den Zuckerhahn aus seiner Tasche und steckte ihn dem Joggi zu.

Diese heimlichen Trostesworte hatten eine wunderbar wirksame Kraft. Der Joggi schaute das Miezchen an, ganz ohne Schrecken, dann schaute er auf seinen roten Zuckerhahn. Und dann fing er an zu lachen, was er seit vielen Tagen nicht mehr getan hatte. Dann stand er auf, und nun ging Otto voran aus dem Stall, dann kam das Miezchen, und ihm folgte der Joggi auf dem Fu?.

Drau?en sagte Otto dem Joggi: "Das kannst du mitnehmen, wir gehen nun heim und du auch, dort hinunter."

Da schüttelte Joggi den Kopf und stellte sich hinter das Miezchen. So gingen alle drei weiter, den Hang hinauf, voran der Otto, dann Miezchen, dann der Joggi. Die Mutter sah den Zug herankommen, und ihr Herz wurde ganz erleichtert, als sie sah, wie der Joggi hinter dem Miezchen herschritt, den roten Zuckerhahn in der Hand hielt und immerfort vergnüglich lachte.

So traten die drei ins Haus und in die Stube, und hier holte das Miezchen gesch?ftig einen Stuhl, nahm den E?korb zur Hand und winkte dem Joggi, da? er komme. Als er dann am Tisch sa?, legte es alles, was im Korb war, vor ihn hin und sagte: "I? du jetzt nur, Joggi, und i? du nur alles auf und sei nun ganz fr?hlich."

Da lachte der Joggi und a? die beiden gro?en Würste und das ganze Brot und das ungeheure Stück K?se und dann noch die Krumen. Den roten Zuckerhahn hielt er die ganze Zeit über fest mit seiner linken Hand, schaute ihn an von Zeit zu Zeit und lachte vergnügt, denn Wurst und Brot hatte er wohl auch schon bekommen. Aber einen roten Zuckerhahn hatte ihm in seinem ganzen Leben noch niemand geschenkt.

Endlich ging der Joggi den Hang hinunter. Voller Freude schauten die Mutter, Otto und Miezchen ihm nach. Er hielt seinen Zuckerhahn bald in der einen, bald in der anderen Hand, lachte immerzu und hatte seinen Schrecken ganz vergessen.

Seit drei Tagen hatte die Frau Oberst den Schreiner Andres nicht besucht. Es hatte sich so vieles ereignet in diesen Tagen, da? sie gar nicht begriff, wie die Zeit dahingegangen war. Doch konnte sie ja beruhigt sein, sie wu?te, da? der Andres gut verpflegt und dazu auf dem besten Weg der Genesung war.

Ihr Mann hatte gleich am Morgen nach seiner Rückkehr aus der Stadt den Andres besucht, um ihm die Entdeckung und die Festnahme seines Bruders selbst mitzuteilen. Andres hatte ganz ruhig zugeh?rt und dann gesagt: "Er hat es so haben wollen. Es w?re doch besser gewesen, er h?tte mich um ein wenig Geld gebeten. Ich h?tte es ihm ja gegeben. Aber er hat immer lieber geprügelt als geredet."

Jetzt trat die Frau Oberst am sonnigen Wintermorgen aus ihrer Tür und stieg fr?hlich den Berg hinunter. Denn sie besch?ftigte sich in ihrem Innern mit einem Gedanken, der ihr gut gefiel. Als sie die Haustür aufmachte beim Schreiner Andres, kam Wiseli eben aus der Stube heraus. Seine Augen waren ganz aufgeschwollen und hochrot vom Weinen. Es gab der Frau Oberst nur flüchtig die Hand und lief scheu in die Küche hinein, um sich zu verstecken.

So hatte die Frau Oberst das Wiseli noch nie gesehen. Was konnte

da geschehen sein? Sie trat in die Stube. Da sa? am sonnigen

Fenster der Andres und sah aus, als sei ein noch nie erlebtes

Unheil über ihn hereingebrochen.

"Was ist denn hier geschehen?" fragte die Frau Oberst und verga? im

Schrecken guten Tag zu sagen.

"Ach, Frau Oberst", st?hnte Andres, "ich wollte, das Kind w?re nie in mein Haus gekommen!"

"Was", rief sie noch erschrockener aus, "das Wiseli? Kann dieses

Kind Ihnen ein Leid angetan haben?"

"Ach, um Himmels willen, nein, Frau Oberst, so meine ich es nicht", entgegnete Andres aufgeregt. "Aber nun ist das Kind bei mir gewesen und hat mir ein Leben gemacht in meinem H?uschen, wie im Paradies. Und jetzt mu? ich das Kind wieder hergeben, und alles wird viel ?der und leerer um mich her sein als vorher. Ich kann es nicht aushalten. Sie k?nnen sich gar nicht denken, wie lieb mir das Kind ist. Ich kann es nicht aushalten, wenn sie mir's wegnehmen. Morgen mu? es gehen, der Onkel hat schon zweimal den Buben geschickt. Es müsse nun zurückkommen, morgen müsse es sein. Und dann ist noch etwas, das mir fast das Herz zersprengt. Seitdem der Onkel den Buben geschickt hat, ist das Kind ganz still geworden und weint heimlich. Es will es nicht so zeigen, aber man kann's sehen, es f?llt ihm schwer zu gehen. Und morgen mu? es sein. Ich übertreibe nicht, Frau Oberst. Aber das kann ich sagen. Alles, was ich seit drei?ig Jahren erspart und erarbeitet habe, g?be ich seinem Onkel, wenn er mir das Kind lie?e."

Die Frau Oberst hatte den aufgeregten Andres zu Ende reden lassen.

Jetzt sagte sie ruhig: "Das würde ich nicht tun an Ihrer Stelle.

Ich würde es ganz anders machen."

Andres schaute sie fragend an.

"Seht, Andres, so würde ich es machen. Ich würde sagen: 'All mein wohlverdientes Gut will ich jemandem zurücklassen, der mir lieb ist. Ich will das Wiseli an Kindesstatt annehmen, ich will sein Vater sein, und es soll als mein Kind in meinem Haus bleiben.' Würde Ihnen das nicht gefallen, Andres?"

Der Andres hatte lautlos zugeh?rt, und seine Augen waren immer gr??er geworden. Jetzt ergriff er die Hand der Frau Oberst und drückte sie.

"Kann man das wirklich machen? K?nnte ich sagen: das Wiseli ist mein Kind, mein eigenes Kind, und niemand hat mehr ein Recht an dem Kind, und kein Mensch kann es mir mehr nehmen?"

"Das k?nnen Sie, Andres", versicherte die Frau Oberst. "Sobald das Wiseli Ihr Kind ist, hat kein Mensch mehr ein Recht auf das Kind. Sie sind der Vater. Und weil ich mir gedacht hatte, Sie k?nnten den Wunsch haben, das Wiseli zu behalten, so habe ich meinen Mann gebeten, heute nicht fortzugehen, falls Sie etwa zur Stadt in die Kanzlei fahren würden, da? alles bald festgesetzt werde, denn zu Fu? k?nnen Sie noch nicht gehen."

Andres wu?te gar nicht, was er tat vor Aufregung und Freude. Er lief dahin und dorthin und suchte den Sonntagsrock. Dann rief er immer wieder: "Ist es auch sicher wahr? Kann's auch sein?" Dann stand er wieder vor der Frau Oberst und fragte: "Kann es jetzt sein, gleich jetzt, heute noch?"

"Gleich jetzt", versicherte sie. Doch gab sie nun dem Schreiner Andres die Hand zum Abschied, sie mu?te gehen und ihrem Mann mitteilen, da? Andres schon reisefertig sei.

"Sie sollten es dem Wiseli erst am Abend sagen, wenn alles gut eingeleitet ist", bemerkte die Frau Oberst noch unter der Tür.

"Ja, sicher, sicher", gab Andres zur Antwort. "Jetzt br?chte ich ohnehin kein Wort hervor."

Als die Tür sich schlo?, setzte sich Andres auf seinen Stuhl und zitterte an H?nden und Fü?en so sehr, da? er meinte, er k?nne nie mehr aufstehen. So waren ihm die Freude und Aufregung in alle Glieder gefahren. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, da kam schon der Wagen des Obersten angefahren und hielt am G?rtchen des Schreiners. Und zu Wiselis unbeschreiblichem Erstaunen stieg der Knecht von seinem Sitz herunter, kam herein, und nach wenigen Minuten sah es, wie er wieder herauskam, den Schreiner Andres mit beiden Armen festhielt und ihm dann in den Wagen half.

Wiseli schaute dem Fuhrwerk nach, als bewege sich etwas Unfa?liches vor seinen Augen, denn der Schreiner Andres hatte kein Wort mehr zu ihm sagen k?nnen, nicht einmal, da? er ausfahren werde.

Jetzt ging Wiseli in die Stube hinein und setzte sich ans Fenster, wo sonst der Schreiner Andres sa?. Und es konnte nichts anderes mehr denken als nur immerzu: Heute ist der letzte Tag, und morgen mu? ich zum Onkel gehen.

Als der Mittag herankam, ging Wiseli in die Küche hinaus und machte zurecht, was der Andres essen sollte. Aber er kam nicht, und es wollte nichts essen, wenn er nicht dabei war. So ging es wieder hinein, und sofort stand der traurige Gedanke wieder vor ihm.

Aber endlich wurde es so müde vom Nachdenken, da? sein Kopf ihm auf die Schulter fiel und es fest einschlief. Aber noch im Schlaf mu?te es immer sagen: "Und morgen mu? ich zum Onkel gehen." Und Wiseli sah nicht, wie leise der helle Abendschein in die Stube fiel und einen sch?nen Tag verkündigte.

Wiseli schreckte hoch, als jemand die Stubentür ?ffnete. Es war der Schreiner Andres. Das Glück leuchtete ihm aus den Augen wie heller Sonnenschein, so hatte ihn Wiseli noch nie gesehen. Es schaute verwundert zu ihm auf. Jetzt mu?te er auf seinen Stuhl sitzen und Atem holen vor Rührung, nicht vor Ersch?pfung. Dann rief er mit triumphierender Stimme: "Es ist wahr, Wiseli, es ist alles wirklich wahr! Die Herren haben alle ja gesagt. Du geh?rst mir, ich bin dein Vater, sag mir einmal 'Vater'!"

Wiseli war ganz schneewei? geworden. Es stand da und starrte den

Andres an, aber es sagte kein Wort und bewegte sich nicht.

"Ja so", fing Andres wieder an, "du kannst es ja nicht begreifen, es kommt mir alles durcheinander vor Freude. Jetzt will ich von vorn anfangen. Siehst du, Wiseli, jetzt eben habe ich es in der Kanzlei unterschrieben. Du bist jetzt mein Kind, und ich bin dein Vater, und du bleibst hier bei mir für immer und gehst nie mehr zurück zum Onkel. Hier bist du daheim, hier bei mir."

Jetzt hatte Wiseli alles begriffen. Auf einmal sprang es auf den Andres zu, umfa?te ihn mit beiden Armen und rief: "Vater! Vater!" Der Andres brachte kein Wort mehr hervor und das Wiseli auch nicht, denn es kam so viel zusammen im Herzen und in den Gedanken, da? es ganz überw?ltigt wurde. Aber mit einemmal war es, als ob ihm ein helles Licht aufginge. Es schaute den Andres mit leuchtenden Augen an und rief. "O Vater, jetzt wei? ich, wie es zugegangen ist und wer uns geholfen hat."

"So, so, und wer denn, Wiseli?" fragte er.

"Die Mutter!" war die rasche Antwort.

"Die Mutter?" wiederholte Andres, ein wenig erstaunt. "Wie meinst du das, Wiseli?"

Jetzt erz?hlte das Kind, wie es die Mutter gesehen hatte, ganz deutlich, wie sie es bei der Hand genommen und ihm einen sonnigen Weg gezeigt und gesagt hatte: Sieh, Wiseli, das ist dein Weg.

"Und jetzt, Vater", fuhr Wiseli eifrig fort, "jetzt ist mir auf einmal in den Sinn gekommen, wie der Weg war, gerade so, wie der drau?en im Garten, wenn die Sonne darauf scheint und die Nelken so rot glühen und auf der anderen Seite die Rosen. Und die Mutter hat ihn schon gekannt und hat gewi? das ganze Jahr den lieben Gott gebeten, da? ich auf den Weg kommen dürfe. Sie hat schon gewu?t, wie gut ich es bei dir haben würde, wie sonst nirgends auf der ganzen Welt. Das glaubst du jetzt auch, Vater, da? alles so gegangen ist, nicht wahr, seit du wei?t, da? die Mutter mir den Weg bei den Nelken gezeigt hat?"

Der gute Andres konnte nichts sagen, die hellen Tr?nen liefen ihm die Wangen hinunter. Dabei aber lachte ihm eine solche Freude aus den nassen Augen, da? es dem Wiseli nicht bange wurde.

Als er aber endlich etwas sagen wollte, da h?rte man nichts davon.

Denn in dem Augenblick wurde mit einem Krach die Tür aufgeschlagen,

und herein sprang mit einem Satz bis mitten in die Stube der Otto.

Dann machte er noch einen gro?en Sprung über einen Stuhl und rief:

"Juhe, wir haben gewonnen, und das Wiseli ist erl?st!"

Hinter ihm stürzte das Miezchen hervor, rannte gleich auf seinen

Freund los und sagte mit bedeutungsvollem Winken gegen die Tür hin:

"Jetzt, Andres, wirst du gleich sehen, was zum Genesungsfest kommt!"

Und da kam schon der B?ckerjunge herein mit einem so ungeheuren Brett auf dem Kopf, da? er in der Tür steckenblieb und nicht damit weiter konnte. Aber von hinten kam eine kr?ftige Hand, die hob und schob und stützte das wankende Geb?ude, bis es glücklich in der Stube angelangt und auf den Tisch gesetzt war, den es g?nzlich bedeckte. Denn Otto und Miezchen hatten Sparbüchsen geopfert und zum Genesungsfest den allergr??ten Rahmkuchen machen lassen, den ein Mensch machen k?nnte. Da er nun zu klein geworden w?re als runder Kuchen, so hatte man ihn viereckig gemacht, so da? er den Ofen ausfüllte von vorn bis hinten und nun den ganzen Tisch bedeckte.

Auf den Boden stellte nun die Trine, die hinter dem B?ckerjungen hilfreich hereingekommen war, ihren gro?en Korb. Da waren ein sch?ner Braten darin und Wein dazu, denn die Frau Oberst hatte gesagt, heute habe der Andres gewi? noch keinen Bissen gegessen. Und vielleicht das Wiseli ebenfalls nicht, und so war es auch. Jetzt merkte auch das Wiseli, da? es hungrig war, als es alle die einladenden Sachen vor sich sah.

Nun setzte sich die ganze Gesellschaft an den Tisch, und man konnte gar nicht absehen, wer von allen das fr?hlichste Gesicht hatte. Vor allem mu?te der Riesenkuchen in der Mitte zerschnitten und die H?lfte auf den Boden gelegt werden, da? man Platz bekam. Nun folgte ein fr?hliches Festessen, denn jedem, der an diesem Tisch sa?, war sein h?chster Wunsch in Erfüllung gegangen.

Als es nun sp?t geworden war unter all der Freude und man endlich vom Tisch aufstehen mu?te, sagte Andres: "Heute habt ihr ein Fest bereitet. Aber am Sonntag will ich auch eins bereiten, dann kommt ihr wieder. Und das soll das Fest des Einstands sein für mein T?chterchen."

Nun schüttelten sich alle die H?nde in der frohen Aussicht auf ein neues herrliches Fest und auf die immerw?hrende Befriedigung, das Wiseli beim Schreiner Andres zu wissen. In der Tür aber gab Wiseli dem Otto noch einmal die Hand und sagte: "Ich danke dir hunderttausendmal für alles Gute, Otto. Der Ch?ppi hat mir auch nie mehr etwas an den Kopf geworfen, weil er nicht durfte. Das habe ich nur dir zu danken."

"Und ich danke dir auch, Wiseli", entgegnete Otto. "Ich habe gar nie mehr die Fetzen auflesen müssen in der Schule. Das habe ich nur dir zu danken."

Nun war in dem Stübchen alles still geworden, und der Mondschein kam leise durchs Fenster herein, bei dem der Schreiner Andres sa?, w?hrend Wiseli abr?umte. Dann kam das Kind zu ihm und sagte: "Vater, soll ich dir nicht den Liedervers der Mutter laut vorbeten? Ich habe ihn heute abend immer wieder leise für mich sagen müssen. Den will ich gewi? mein ganzes Leben lang nie vergessen."

Andres wollte den Vers h?ren, und Wiseli schaute zu den Sternen auf und sagte tief aus seinem Herzen heraus:

("Befiehl du deine Wege,

Und was dein Herze kr?nkt,

Der allertreusten Pflege

Des, der den Himmel lenkt.)

(Der Wolken, Luft und Winden

Gibt Wege, Lauf und Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Wo dein Fu? gehen kann.")

Von diesem Tag an war und blieb das allerglücklichste Haus im ganzen Dorf und im ganzen Land das H?uschen des Schreiners Andres mit dem sonnigen Nelkengarten. Wo seither das Wiseli sich blicken lie?, da waren alle Leute so freundlich mit ihm, da? es nur staunen mu?te. Denn vorher hatten sie es nie beachtet, und der Onkel und die Tante gingen nie am Haus vorbei, ohne schnell hereinzukommen, ihm die Hand zu geben und zu sagen, es solle auch zu ihnen kommen.

über diese Wendung war das Wiseli froh, denn es hatte immer heimlich Angst gehabt beim Gedanken, was der Onkel zu allem sagen werde. So war Wiseli von aller Furcht befreit und war fr?hlich. Im stillen aber dachte es: Der Otto und seine Familie waren gut mit mir, als es mir schlechtging und ich niemanden mehr auf der Welt hatte. Aber die anderen Leute sind erst freundlich mit mir geworden, seit es mir gutgeht und ich einen Vater habe. Ich wei? ganz gut, wer es am besten mit mir meint.

Ende dieses Projekt Gutenber Etextes Wie Wiselis Weg gefunden wird

Erz?hlung von Johanna Spyri.

                         

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